Fachgespräch “Schienenpersonenfernverkehr in Deutschland”

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FG Bahn

18.12.2015

Quo vadis Fern­ver­kehr auf Deutsch­lands Schie­nen?

Zu den Per­spek­ti­ven des Schie­nen­per­so­nen­fern­ver­kehrs in Deutsch­land dis­ku­tier­ten rund 80 Fach­leu­te aus der Bahn­bran­che, Mobi­li­täts­be­ra­tung, Fahr­gast­ver­bän­den, Län­dern, Bund und Euro­pa beim von mir initi­ier­ten Fach­ge­spräch am 14. Dezem­ber in Ber­lin.

 

Die Bahn­po­li­tik durch­lebt aktu­ell sehr beweg­te Zei­ten, so mei­ne ein­lei­ten­den Wor­te zum Fach­ge­spräch zum SPFV auf Deutsch­lands Schie­nen. Der DB-Kon­zern reagiert auf die stär­ke­re wer­den­de Kri­tik und kün­digt im Vor­feld ihrer letz­ten Auf­sichts­rats­sit­zung 2015 eine Qua­li­täts- und Pünkt­lich­keits­of­fen­si­ve an. Wir Grü­ne woll­ten mit den ver­schie­de­nen Betei­lig­ten der Bran­che in die Debat­te dar­über kom­men, wo der Schie­nen­per­so­nen­fern­ver­kehr in Deutsch­land aktu­ell steht, wel­che Ver­bes­se­rungs­po­ten­zia­le über kur­ze und lan­ge Sicht mach­bar sind und wel­chen Bei­trag die Poli­tik hier­zu leis­ten kann.

Micha­el Zie­sak, Bun­des­vor­sit­zen­der des Ver­kehrs­club Deutsch­land (VCD), gab als ers­ter Refe­rent einen Über­blick über den Sta­tus Quo in der Bahn­po­li­tik seit der Bahn­re­form 1994. Einen Wett­be­werb im SPFV gibt es sei­ner Ansicht nach nicht, die DB hat das Qua­si-Mono­pol und ent­schei­det allein, wann und wo im SPFV gefah­ren wird. Die im Grund­ge­setz ver­an­ker­te Daseins­vor­so­ge ver­nach­läs­sigt der Bund bis heu­te. Er mach­te aber auch deut­lich, dass das heu­te geleb­te Kon­zept des „open access“ im SPFV nicht funk­tio­niert, weil die­ser wenn über­haupt sich sei­nes Erach­tens nur auf Rosinen‑, nicht aber auf Zitro­nen­stre­cken ent­wi­ckeln kann. Er ver­wies wei­ter auf die aktu­el­le Stu­die der Bun­des­re­gie­rung, die einen Deutsch­land­takt grund­sätz­lich für mach­bar hält, und for­der­te kon­kre­te Schrit­te hin zur Umset­zung des Deutsch­land­tak­tes bei der Infra­struk­tur­pla­nung. Wer den Deutsch­land­takt dann fährt, ist sei­ner Ansicht nach zweit­ran­gig. Trotz der erfreu­li­chen Neu­ori­en­tie­rung von DB Fern­ver­kehr, mit der Fern­ver­kehrs­of­fen­si­ve den Fern­ver­kehr wie­der stär­ker in die Flä­che zu tra­gen müs­se der Bund sei­ne Infra­struk­tur unab­hän­gig von den Inter­es­sen ein­zel­ner Eisen­bahn­ver­kehrs­un­ter­neh­men pla­nen. Sei­ne unmiss­ver­ständ­li­che Auf­for­de­rung an die Poli­tik lau­te­te: „Der Bund muss end­lich wie­der mehr Ver­ant­wor­tung für die Schie­ne über­neh­men!“ Er betont aber auch, dass das kein Zurück zur Staats­bahn sein kann, die Bahn­re­form muss wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den.

Prof. Dr. Kay Mitusch vom Karls­ru­her Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT) ging in sei­nem Refe­rat auf die Fra­ge ein, ob der Schie­nen­per­so­nen­fern­ver­kehr mehr Wett­be­werb benö­tigt. Er ver­wies dar­auf, dass mit der Bahn­re­form 1994 die Mög­lich­keit für poten­zi­el­len Wett­be­werb im SPFV geschaf­fen wor­den ist, auch wenn DB Fern­ver­kehr fak­tisch bis heu­te ein Markt­mo­no­pol hält. Mit Ver­weis auf Markt­wett­be­wer­ber aus der Ver­gan­gen­heit zog er den Schluss, dass ein poten­zi­el­ler Wett­be­werb zwar auch Aus­wir­kun­gen auf Ange­bo­te und Prei­se der DB hat, dies aber nicht aus­rei­chend sei. Viel­mehr bräuch­te es ech­ten Wett­be­werb auch im Fern­ver­kehr. Um die­sen zu errei­chen, müs­se der Bund ernst­haft die Fra­ge der Markt­ein­tritts­bar­rie­ren und deren Besei­ti­gung anpa­cken. Dar­über hin­aus beton­te er auch die Rol­le der EU. Wenn ein neu­er Zug in der EU über­all ein­ge­setzt wer­den kön­ne (was heu­te nicht der Fall ist), dann wür­de der Wett­be­werbs­an­teil sicher stei­gen.

Im Anschluss wur­de die Per­spek­ti­ve der Eisen­bahn­ver­kehrs­un­ter­neh­men stär­ker beleuch­tet. Dr. Phil­ipp Nagl von DB Fern­ver­kehr ging auf die Rand­be­din­gun­gen des Eisen­bahn­be­triebs in Deutsch­land ein. So sei­en im inter­na­tio­na­len Ver­gleich die Tras­sen­prei­se in Deutsch­land ver­gleichs­wei­se hoch, zudem gebe es mit der tech­ni­schen Inter­ope­ra­bi­li­tät der Eisen­bahn­in­fra­struk­tu­ren in den ver­schie­de­nen euro­päi­schen Staa­ten Pro­ble­me, die selbst ETCS nicht voll­stän­dig auf­lö­sen wird. Zudem sei nach den Wor­ten Nagls der Schie­nen­per­so­nen­fern­ver­kehr nur in weni­gen Län­dern ren­ta­bel, in eini­gen Län­dern wie Öster­reich sub­ven­tio­niert. Nagl monier­te zudem, dass Deutsch­land ver­gleichs­wei­se wenig in Neu- und Aus­bau­ten der Schie­nen­in­fra­struk­tur inves­tiert. So sei die voll­stän­di­ge Umset­zung der Fern­ver­kehrs­stra­te­gie der DB nicht ohne ziel­ge­rich­te­te Nach­bes­se­run­gen im Netz mach­bar.

Hans Leis­ter, Euro­pa­chef von RCD, dem Mehr­heits­ge­sell­schaf­ter des Ham­burg-Köln-Expres­ses (HKX), warf anhand des eige­nen Zug­pro­dukts zwi­schen Ham­burg und Köln die Fra­ge auf, ob die Auf­tei­lung zwi­schen Schie­nen­per­so­nen­nah­ver­kehr und ‑fern­ver­kehr noch zeit­ge­mäß sei. Nach sei­nen Wor­ten gebe es eine preis­sen­si­ble Kun­den­grup­pe, wel­che Kom­fort mit mode­ra­ten Prei­sen ver­bin­den möch­te. Für die­se sei der Fern­bus gera­de auf lan­gen Stre­cken kein attrak­ti­ves Ange­bot, statt­des­sen nut­zen die­se Kun­den ver­güns­tig­te Nah­ver­kehrs­an­ge­bo­te der DB als Fern­ver­kehr oder Ange­bo­te kon­kur­rie­ren­der Unter­neh­men. Daher sei auch die Abgren­zung zwi­schen Nah- und Fern­ver­kehr in Fra­ge zu stel­len. Zudem stel­len die hohen Tras­sen­prei­se in Deutsch­land ein erheb­li­ches Wett­be­werbs­hin­der­nis dar. Leis­ter beton­te auch die Bedeu­tung der tarif­li­chen Inte­gra­ti­on. Seit der HKX den C‑Tarif der Bahn aner­kennt, sind die Fahr­gast­zah­len deut­lich gestie­gen.

Derek Lade­wig, Geschäfts­füh­rer der Loco­mo­re, erklär­te als Ver­tre­ter eines mit­tel­stän­di­schen Eisen­bahn­ver­kehrs­un­ter­neh­mens sei­ne Offen­heit für einen alter­na­ti­ven Rechts­rah­men im Eisen­bahn­recht, wenn die­ser auch Mit­tel­ständ­ler als Mit­spie­ler im Markt­ge­sche­hen berück­sich­tigt. Mit Blick auf die kon­kre­te Wett­be­werbs­si­tua­ti­on der euro­päi­schen Staats­bah­nen im Fern­ver­kehr ihrer Hei­mat­märk­te plä­dier­te Lade­wig für Bedin­gun­gen hin zu einem ech­ten Wett­be­werb im SPFV. Es sei gut, wenn der Markt nicht aus­schließ­lich von einem Kon­zern beherrscht wird. Loco­mo­re plant ab Sep­tem­ber 2016 zwi­schen Ber­lin und Stutt­gart täg­lich in jede Rich­tung eine Ver­bin­dung anzu­bie­ten. Um das Pro­jekt zu rea­li­sie­ren läuft der­zeit eine Crowd­fun­ding-Kam­pa­gne.

Dr. Karl-Heinz Roch­litz vom Refe­rat Netz­zu­gang der Bun­des­netz­agen­tur gab einen sehr anschau­li­chen Über­blick über die kon­kre­ten Pro­ble­me beim Markt­zu­gang im deut­schen SPFV. Im Wesent­li­chen las­sen sich die Ein­tritts­bar­rie­ren für Wett­be­wer­ber im Schie­nen­fern­ver­kehr auf die Punk­te Fahr­zeug­fi­nan­zie­rung, Zugang zum Schie­nen­netz, Tras­sen- und Sta­ti­ons­ent­gel­te und die der­zei­ti­ge Markt­si­tua­ti­on „David gegen Goli­ath“ ver­dich­ten. Eine Quer­fi­nan­zie­rung von schwä­cher aus­ge­las­te­ten „Zitro­nen­stre­cken“ durch stark aus­ge­las­te­te „Rosi­nen­stre­cken“ wie bei DB Fern­ver­kehr kön­ne von den neu in den Markt ein­tre­ten­den Wett­be­werbs­bah­nen nicht geleis­tet wer­den.

Frank Jost von der Abtei­lung „Mobi­li­ty and Trans­port“ der EU-Kom­mis­si­on zeig­te die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen bei der Wei­ter­ent­wick­lung des euro­päi­schen Regu­lie­rungs­rah­mens auf. Er ging unter ande­rem auf die vor­ge­brach­te Kri­tik an der Struk­tur der Tras­sen­prei­se ein, ver­wies jedoch dar­auf, dass die Kom­mis­si­on hier nicht wei­ter regu­lie­ren möch­te, son­dern einen stär­ke­ren Fokus auf die Umset­zung erlas­se­ner Richt­li­ni­en setzt. Den­noch sprach sich Jost für die Anwen­dung des Grenz­kos­ten­prin­zips bei der Tras­sen­preis­bil­dung aus. Eine Bün­de­lung von ren­ta­blen und unren­ta­blen Lini­en bei gemein­wirt­schaft­li­chen Ver­keh­ren nach der Richt­li­nie 1370/2007/EG bewer­tet die Kom­mis­si­on kri­tisch.

Peter Lind­ner aus dem Refe­rat Eisen­bahn und Schie­nen­in­fra­struk­tur vom hes­si­schen Wirt­schafts- und Ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um stell­te die Grund­zü­ge eines Schie­nen­per­so­nen­fern­ver­kehrs­ge­set­zes vor, wel­ches im Rah­men einer Bun­des­rats­in­itia­ti­ve meh­re­rer Län­der vor­an­ge­trie­ben wird. Ziel ist es, durch einen Fern­ver­kehrs­plan ein Min­dest­an­ge­bot im SPFV gesetz­lich vor­zu­schrei­ben. Er lenk­te zudem den Blick auf die mit­tel­fris­ti­ge Ent­wick­lung der Tras­sen­prei­se, wel­che die Dyna­mi­sie­rung der Regio­na­li­sie­rungs­mit­tel des Nah­ver­kehrs nicht über­stei­gen soll­ten.

Chris­toph Schaaff­kamp, Part­ner des Bera­tungs­un­ter­neh­mens kcw, zog in sei­nem Refe­rat Leh­ren aus den Erfol­gen und Miss­erfol­gen der Bahn­re­for­men ande­rer euro­päi­scher Län­der. Auch wenn nicht alle Markt­be­din­gun­gen Eins zu Eins auf Deutsch­land über­trag­bar sei­en, so sind fai­re Wett­be­werbs­be­din­gun­gen und eine kon­se­quen­te Been­di­gung der Son­der­rol­le eines Staats­un­ter­neh­mens wie bei der SJ in der schwe­di­schen Bahn­po­li­tik wich­ti­ge Erfolgs­fak­to­ren. Mit Blick auf die Schweiz resü­mier­te Schaaff­kamp, dass das deut­sche Eisen­bahn­netz deut­lich unter­fi­nan­ziert sei. Zudem gebe es mit „Bahn 2000“ in der Schweiz eine kla­re Stra­te­gie, die Bund und Eisen­bahn­in­fra­struk­tur- und ‑ver­kehrs­un­ter­neh­men gemein­sam ent­wi­ckeln und den Kun­den im Mit­tel­punkt hat. Auch Schaaff­kamp for­der­te die Poli­tik auf, end­lich ein Kon­zept für den SPFV zu ent­wi­ckeln und die­ses dann auch mit Umset­zungs­maß­nah­men zu unter­mau­ern. Er beton­te auch, dass das kein Schritt von heu­te auf mor­gen, son­dern ein Pro­zess mit beglei­ten­der Eva­lu­ie­rung ist.

Dr. Felix Ber­schin von der Nah­ver­kehrs­be­ra­tung Süd­west lenk­te als abschlie­ßen­der Refe­rent den Blick auf die Kapa­zi­täts­pla­nung bei einem mög­li­chen Mehr­ver­kehr in Deutsch­land. Zwar gebe es nach sei­nen Wor­ten über­las­te­te Stre­cken, den­noch las­sen sich die kri­ti­schen Kapa­zi­täts­eng­päs­se vor allem in den Kno­ten­punk­ten des Schie­nen­net­zes aus­ma­chen. Daher sei­en Mehr­ver­keh­re zwar mach­bar, benö­ti­gen jedoch punk­tu­el­le Inves­ti­tio­nen an Eng­pass­stel­len. Laut Ber­schin wür­de dar­über hin­aus der Schie­nen­ver­kehr in Deutsch­land durch einen Deutsch­land-Takt wesent­lich pro­fi­tie­ren.

In der sich anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on mel­de­ten sich zahl­rei­che Ver­tre­ter aus der Bran­che zu Wort. Die Fra­gen reich­ten von der Regu­lie­rung im Eisen­bahn­sek­tor über die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen im Nacht­zug­ver­kehr bis hin zu den feh­len­den stra­te­gi­schen Wei­chen­stel­lun­gen sei­tens der Bun­des­re­gie­rung zur Netz­ent­wick­lung.

Mein Frak­ti­ons­kol­le­ge Ste­phan Kühn stell­te in sei­nem Schluss­wort fest, dass Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­ter Dob­rindt kei­ner­lei stra­te­gi­sche Zie­le für die Wei­ter­ent­wick­lung des Schie­nen­ver­kehrs aus­gibt – weder als Ver­tre­ter des Bun­des bei der bun­des­ei­ge­nen Deut­schen Bahn AG noch bei der über­ge­ord­ne­ten Pla­nung im Rah­men des Bun­des­ver­kehrs­we­ge­pla­nes. Für die Ver­la­ge­rung von Ver­keh­ren auf die Schie­ne, ob im Per­so­nen- oder auch im Güter­ver­kehr, braucht es jedoch eine abge­stimm­te Stra­te­gie, von denen sich kon­kre­te Maß­nah­men des Bun­des bei der Infra­struk­tur­ent­wick­lung ablei­ten las­sen. Andern­falls bleibt die von allen poli­ti­schen Par­tei­en beschwo­re­ne „Stär­kung der Schie­ne“ nur ein Lip­pen­be­kennt­nis in Sonn­tags­re­den ohne kon­kre­te Umset­zung.