Neigetechnik – mit dem Zug bogenschnell um die Kurve

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Neigetecznik-Zug Bild von Johannes

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto von Johan­nes Uhl: Ein Nei­ge­tech­nik­zug der moderns­ten Bau­rei­he (Br 612), wie er z. B. auf der IRE-Linie Stutt­gart-Tübin­gen-Aulen­dorf zum Ein­satz kommt.

 

Idee

Fährt ein Zug in eine Kur­ve, so wirkt auf die Fahr­gäs­te, die soge­nann­te Quer­be­schleu­ni­gung. Die­se hat mit der „Flieh­kraft“ zu tn, die man z.B. auch im Ket­ten­ka­rus­sell spürt. Aus Kom­fort- und Sicher­heits­grün­den ist die­se Quer­be­schleu­ni­gung, die wäh­rend einer Kur­ven­fahrt auf die Fahr­gäs­te wirkt, im Eisen­bahn­ver­kehrs gesetz­lich nach oben begrenzt (amax=1 m/s²). Da die Quer­be­schleu­ni­gung mit der Geschwin­dig­keit bei der Kur­ven­fahrt zunimmt, muss je nach Kur­ven­ra­di­us die Fahr­ge­schwin­dig­keit des Zuges nach oben begrenzt wer­den.

Die Geschwin­dig­keits­be­schrän­kun­gen in kur­ven­rei­chen Stre­cken lie­gen also meist nicht dar­an, dass der Zug ansons­ten „aus der Kur­ve flie­gen“ wür­den, son­dern ledig­lich dar­an, dass die Kräf­te, die ansons­ten auf den Fahr­gast wir­ken wür­den, zu groß wären – es könn­ten z.B. ste­hen­de Pas­sa­gie­re stür­zen. Eine Ent­glei­sung des Fahr­zeugs wäre erst bei deut­lich höhe­ren Quer­be­schleu­ni­gun­gen zu befürch­ten.

Durch das Nei­gen der Stre­cke kann man nun gene­rell die­se Quer­be­schleu­ni­gung ein Stück weit aus­glei­chen (vgl. „Steil­kur­ven“ auf Auto­renn­stre­cken). Das macht man stan­dart­mä­ßig auch bei der Bahn so, indem man das bogen­äu­ße­re Gleis in der Kur­ve höher legt als das Bogen­in­ne­re (Fach­be­griff: Gleis­über­hö­hung). Aller­dings kann man dies nicht belie­big weit trei­ben, sonst wür­den z.B. in der Kur­ve ste­hen­ge­blie­be­ne Fahr­zeu­ge ein­fach umfal­len. An die­ser Stel­le kommt nun die Nei­ge­tech­nik ins Spiel. Mit ihr kann man den Wagen­kas­ten noch zusätz­lich zur Gleis­über­hö­hung nei­gen (um bis zu wei­te­re 8°) und so noch mehr Quer­be­schleu­ni­gung aus­glei­chen und folg­lich – auf der glei­chen Infra­struk­tur – bis zu 40% schnel­ler zu fah­ren.

 

Technische Umsetzung

Die Nei­ge­tech­nik­fahr­zeu­ge des Her­stel­lers FIAT (Ein­satz in BR 610 und ICE‑T) ver­fü­gen über hydrau­li­sche Sys­te­me mit der Bezeich­nung „Pen­do­li­no“. Der Wagen­kas­ten wird dabei also durch Hydrau­lik­kol­ben aus­ge­lenkt. Die aktu­ell „not­wen­di­ge“ Nei­gung wird ermit­telt, indem Sen­so­ren die Quer­be­schleu­ni­gung mes­sen und dar­aus den nöti­gen Aus­len­kungs­win­kel berech­nen.

In Deutsch­land wur­de von Sie­mens unter der Bezeich­nung „Neicontrol‑e“ ein eige­nes Sys­tem ent­wi­ckelt (Ein­satz in BR 611 und BR 612). Die­ses neigt den Wagen­kas­ten ab einer Fahr­ge­schwin­dig­keit von 70 km/h mit Hil­fe elek­tri­scher Moto­ren. Neicontrol‑e ist zwar ener­gie­spa­ren­der als das Pen­do­li­no-Sys­tem, erwies sich aber am Anfang als sehr stör­an­fäl­lig, wes­halb die Züge lan­ge Zeit mit inak­ti­ver Nei­ge­tech­nik ver­kehr­ten.

 

Chancen der Neigetechnik

  • Man kann „alte“, kur­ven­rei­che Stre­cken mit höhe­rer Geschwin­dig­keit befah­ren, ohne einen Neu­bau mit sehr gera­der Stre­cken­füh­rung, der meist nur durch teu­re Tun­nel und Brü­cken erreicht wird, not­wen­dig zu machen
  • Rei­se­zeit­ver­kür­zung (bis zu 10–20%) auf Bestandstre­cken à Takt­fahr­plä­ne (ITF) oder Bedie­nen meh­re­rer Hal­te bei glei­cher Fahr­zeit wer­den ermög­licht
  • Höhe­re Wirt­schaft­lich­keit durch kür­ze­re Fahr­zeit
  • Die not­wen­di­gen Umbau­maß­nah­men der „alten“ Stre­cken sind erheb­lich güns­ti­ger als eine gleich­wer­ti­ge Infra­struk­tur­auf­wer­tung und zudem öko­lo­gisch wie sozi­al gänz­lich unpro­ble­ma­tisch. Es geht dabei im Wesent­li­chen um die Anpas­sung der Stre­cke an die höhe­re Geschwin­dig­keit (här­te­re Schie­nen etc.) und um ande­re Anfor­de­run­gen an die Signal­tech­nik.
  • Es wird Ener­gie ein­ge­spart, da man vor Kur­ven nicht mehr abbrem­sen und danach wie­der beschleu­ni­gen muss
  • Nei­ge­tech­nik als „Pro­dukt“ für den Export sei­tens der Bahn­in­dus­trie

 

Probleme der Neigetechnik

  • Höhe­re Stör­an­fäl­lig­keit der Fahr­zeu­ge („wo mehr Tech­nik ist, kann mehr Tech­nik aus­fal­len“) à Stö­run­gen der Nei­ge­tech­nik füh­ren dazu, dass die Fahr­zeu­ge dann ohne Nei­ge­tech­nik lang­sa­mer ver­keh­ren müs­sen und dadurch Ver­spä­tun­gen ver­ur­sacht wer­den
  • Fahr­zeu­ge in Anschaf­fung und Unter­hal­tung durch die Nei­ge­tech­nik an sich und durch höhe­re Belas­tung der Dreh­ge­stel­le teu­rer
  • Das Nei­gen an sich erhöht den Ener­gie­ver­brauch des Fahr­zeugs
  • Fahr­zeu­ge kön­nen Nei­ge­tech­nik nur auf ent­spre­chend aus­ge­rüs­te­ten Stre­cken nut­zen (u.a. Anpas­sung der Glei­se und Sicher­heits­ein­rich­tun­gen an höhe­re Fahr­ge­schwin­dig­kei­ten). Auf nicht aus­ge­rüs­te­ten Stre­cken, kön­nen die Fahr­zeu­ge aber mit inak­ti­ver Nei­ge­tech­nik ver­keh­ren.
  • Nei­ge­tech­nik ruft bei emp­find­li­chen Fahr­gäs­ten Übel­keit her­vor – ähn­lich der See­krank­heit. Dies wird dadurch ver­ur­sacht, dass der Fahr­gast visu­ell eine Kur­ven­fahrt wahr­nimmt, aber eine „zu gerin­ge“ Quer­be­schleu­ni­gung fühlt.
  • Fahr­zeu­ge müs­sen beson­ders im obe­ren Teil des Wagen­kas­tens schma­ler gebaut wer­den, da sie sonst beim Nei­gen ins ande­re Gleis ragen wür­den à klei­ne­re Gepäck­be­rei­che
  • Ein­ge­setz­te Fahr­zeu­ge sind bis­her meist die­sel­ge­trie­ben, da bei elek­tri­schen Antrieb der Strom­ab­neh­mer auch bei der Kur­ven­nei­gung kor­rekt an der Ober­lei­tung anlie­gen muss (à tech­nisch noch auf­wen­di­ger)

 

Ein Konzept mit Zukunftschancen

Auf­grund umfang­rei­cher, anfäng­li­cher „Kin­der­krank­hei­ten“ stößt das Nei­ge­tech­nik­kon­zept in Deutsch­land heu­te ins­be­son­de­re bei der Deut­schen Bahn ver­mehrt auf Skep­sis. Den­noch wären eine tech­ni­sche Wei­ter­ent­wick­lung und ver­mehr­te Ein­be­zie­hun­gen in Nah­ver­kehrs­aus­schrei­bun­gen der Län­der zu befür­wor­ten. Der äußerst erfolg­rei­che Ein­satz im heu­ti­gen Nah­ver­kehr und in ande­ren euro­päi­schen Staa­ten macht deut­lich, dass das Nei­ge­tech­nik-Kon­zept heu­te pra­xis­reif ist.

Auch in der aktu­el­len Dis­kus­si­on um die Ein­rich­tung eines Inte­gra­len Takt­fahr­pla­nes in Deutsch­land (sie­he hier­zu auch einen Arti­kel in einem frü­he­ren News­let­ter: https://www.matthias-gastel.de/?wysija-page=1&controller=email&action=view&email_id=6&wysijap=subscriptions) könn­te die Nei­ge­tech­nik eine ent­schei­den­de Rol­le spie­len. Durch sie kön­nen die Fahr­zei­ten auf vie­len Bestands­stre­cken ohne all­zu gro­ße Inves­ti­tio­nen so ver­kürzt wer­den, dass die für einen inte­gra­len Takt­fahr­plan nöti­gen Fahr­zei­ten erreicht wer­den kön­nen.

Das Kon­zept bie­tet in Zei­ten knap­per Mit­tel – beson­ders für schnel­len, über­re­gio­na­len Nah­ver­kehr – deut­li­che Chan­cen, um mög­lichst viel aus dem Bestands­netz her­aus­zu­ho­len und auf kost­spie­li­ge Neu­bau­ten ver­zich­ten zu kön­nen. Dies ist sowohl öko­no­misch wie auch öko­lo­gisch zu befür­wor­ten und ist gänz­lich im Sin­ne des Prin­zips „Erhalt vor Neu­bau“.

Wer die Nei­ge­tech­nik ein­mal in Akti­on erle­ben möch­te, dem sei eine Fahrt im IRE von Stutt­gart nach Tübin­gen bzw. wei­ter nach Aulen­dorf emp­foh­len. In den moder­nen Trieb­wa­gen der Bau­rei­he 612 kön­nen Sie dabei die Nei­gung des Fahr­zeugs gut beim Blick aus dem Fens­ter beob­ach­ten. Wei­te­re Stre­cken mit Nei­ge­tech­nik­be­trieb in Baden-Würt­tem­berg:

  • IRE von Ulm nach Basel über Ravens­burg, Fried­richs­ha­fen, Über­lin­gen und Radolf­zell
  • IRE von Ulm nach Donau­eschin­gen über Sig­ma­rin­gen
  • IRE von Ulm nach Aalen über Hei­den­heim