„Tour barrierefreie Mobilität“

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13.06.2017

Mit Men­schen mit Behin­de­rung in sechs ver­schie­de­nen öffent­li­chen Ver­kehrs­sys­te­men unter­wegs

Mobi­li­tät ist die Vor­aus­set­zung für wirt­schaft­li­che und sozia­le Teil­ha­be. In einer Gesell­schaft mit immer mehr älte­ren Men­schen und Men­schen mit Behin­de­rung wer­den bar­rie­re­freie Rei­se­ket­ten immer wich­ti­ger. In Deutsch­land leben über zehn Mil­lio­nen Men­schen mit Behin­de­rung. Ihnen wer­den jedoch häu­fig Bar­rie­ren in den Weg gelegt. Bus­se und Bah­nen im Nah- wie im Fern­ver­kehr sind oft­mals – wenn über­haupt – ins­be­son­de­re für Men­schen im Roll­stuhl nur ein­ge­schränkt nutz­bar. Auch für Men­schen mit Seh­be­hin­de­rung sind öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel häu­fig nur mit Hil­fe ande­rer Per­so­nen nutz­bar. Es muss jedoch dar­um gehen, Mobi­li­tät mög­lichst selbst­be­stimmt zu ermög­li­chen, also ohne beson­de­re Erschwer­nis und grund­sätz­lich ohne frem­de Hil­fe. Von Bar­rie­re­frei­heit pro­fi­tie­ren auch Eltern mit klei­nen Kin­dern und Rei­sen­de mit viel Gepäck.

„Bar­rie­re­frei­heit“ kann nicht auf Stu­fen­lo­sig­keit beschränkt wer­den. So müs­sen bei­spiels­wei­se Infor­ma­ti­ons­sys­te­me und Fahr­kar­ten­au­to­ma­ten auch für Men­schen mit Seh- und für Men­schen mit Hör­ein­schrän­kun­gen nutz­bar sein und WC-Anla­gen in Bahn­hö­fen und Zügen behin­der­ten­ge­recht aus­ge­stat­tet sein.

Von rund 5.400 Bahn­hö­fen der DB sind aktu­ell 77% stu­fen­frei (nicht auto­ma­tisch bar­rie­re­frei!). So ver­fü­gen bei­spiels­wei­se erst 51% der Bahn­stei­ge über ein tak­ti­les Leit­sys­tem. Vie­le Bahn­stei­ge sind nicht bar­rie­re­frei erreich­bar, Auf­zü­ge (allei­ne die DB betreibt 2.100 Auf­zü­ge) sind zu oft defekt (häu­fig auf­grund von Van­da­lis­mus!). Oft­mals bestehen zwi­schen Bahn­stei­gen und Zügen Höhen­dif­fe­ren­zen.

Um mehr Ein­bli­cke in die Per­spek­ti­ven von Men­schen mit Behin­de­rung zu gewin­nen, war ich mit zwei Roll­stuhl­fah­rern und zwei Per­so­nen mit Seh­be­hin­de­rung (einer davon mit sehr gerin­gem Sehrest)unterwegs. Wir haben ent­lang einer Rei­se­ket­te ins­ge­samt sechs ver­schie­de­ne Ver­kehrs­sys­te­me genutzt. Unse­re Erfah­run­gen wer­den hier doku­men­tiert. Sie wur­den außer­dem in einem Video fest­ge­hal­ten.

Mit dem ICE von Stutt­gart nach Karls­ru­he

Ein Pro­blem wur­de uns bereits in der Rei­se­pla­nung auf­ge­zeigt: Der ICE ver­fügt nur über zwei Plät­ze für Men­schen im Roll­stuhl. Einer davon war zum Zeit­punkt unse­rer Buchung schon reser­viert. Wir muss­ten uns also in zwei Züge – den ICE und den deut­lich lang­sa­me­ren IRE – auf­tei­len. Die Ein- und Aus­stie­ge waren mit der Unter­stüt­zung des Mobi­li­täts­ser­vice der DB pro­blem­los. Was mir aller­dings sehr nega­tiv auf­fiel: Eine DB-Mit­ar­bei­te­rin duz­te einen unse­rer Rol­li­fah­rer (er ist über 30 Jah­re alt) und auch bei wei­te­ren Umstei­ge­vor­gän­gen wur­de er zunächst geduzt, was dann aller­dings schnell wie­der kor­ri­giert wur­de.

Mit dem IRE von Stutt­gart nach Karls­ru­he

Der Platz für Roll­stuhl­fah­rer war ganz hin­ten im Zug und nicht vor­ne, wie der DB-Mit­ar­bei­ter zuerst sag­te. Da der Zug aller­dings meh­re­re Minu­ten in Stutt­gart Auf­ent­halt hat­te, war das Ein­stei­gen kein Pro­blem. Wir hat­ten genug Zeit und der DB-Mit­ar­bei­ter hat mit der Ram­pe gehol­fen. In Karls­ru­he kam die DB-Mit­ar­bei­te­rin dann auch erst kurz nach der Ankunft des Zuges, weil sie am fal­schen Ende des Bahn­stei­ges auf uns gewar­tet hat. Der Rol­li­fah­rer konn­te ohne Ein­stiegs­hil­fe aus­stei­gen, weil er sehr sport­lich ist.

Haupt­bahn­hof Karls­ru­he

Es stell­te sich her­aus, dass das Blin­den­leit­sys­tem unein­heit­lich gestal­tet und mit­hil­fe des Blin­den­stocks auf­grund des zu gerin­gen Pro­fils teil­wei­se kaum ertas­tet wer­den kann. Ein Leit­strei­fen führ­te auf eine nur zu Hälf­te geöff­ne­ter Tür zu, was beim blin­den Mit­rei­sen­den zu kur­zen Irri­ta­tio­nen führ­te. Die Que­rung der Stra­ßen­bahn- und S‑Bahngleise ist für Men­schen mit Seh­be­hin­de­rung schwie­rig, da die Züge sehr lei­se fah­ren und es kein akus­ti­sches Warn­si­gnal gibt.

Mit der Stra­ßen­bahn durch Karls­ru­he

Obwohl auf der elek­tro­ni­schen Fahr­pla­nan­zei­ge an der Hal­te­stel­le vor dem Haupt­bahn­hof das Roll­stuhl­sym­bol auf­zeig­te und die­ses auch neben der Stra­ßen­bahn-Türe ange­bracht war, muss­te eine Höhen­dif­fe­renz von etwa 20 Zen­ti­me­tern über­wun­den wer­den. Eine Ram­pe oder ein Lift gab es dafür nicht. Die bei­den Roll­stuhl­fah­rer muss­ten in die Stra­ßen­bahn hin­ein- und spä­ter wie­der hin­aus­ge­hievt wer­den. Mit Elek­tro­roll­stüh­len wäre ein Zugang unmög­lich gewe­sen!

Mit dem Fern­bus von Karls­ru­he nach Stutt­gart-Flug­ha­fen

Der Fern­bus­halt besteht aus zwei etwa 80 Meter lan­gen Bus­stei­gen, wobei unklar ist, wel­cher Fern­bus wo hält. Für Men­schen mit Seh­be­hin­de­rung gibt es kei­ner­lei Hil­fen und mit einem Roll­stuhl kann man nicht ohne Umwe­ge von einem zum ande­ren Bus­steig gelan­gen. Unser Bus fuhr so an den Bus­steig her­an, dass der Ein­stieg von der Fahr­bahn­sei­te und nicht von der Bus­steig­sei­te her erfolg­te. Wir hat­ten zwei Tage vor­her ange­mel­det, dass wir mit zwei Roll­stuhl­fah­rern kom­men. So ver­langt es Flix­bus, das Fern­bus­un­ter­neh­men mit einem Markt­an­teil von 90 Pro­zent. Die Bus­fah­rer wuss­ten jedoch von nichts, als sie mit einem angeb­lich ganz neu­en, aber ohne Ram­pe oder Lift und ohne Stell­flä­chen aus­ge­stat­te­ten Bus anka­men. Nach kur­zer Rat­lo­sig­keit pack­ten sie an und hoben die bei­den Rol­li­fah­rer in den Bus hin­ein. Die Tür zum WC und der Flur waren damit blo­ckiert. Anschnal­len konn­ten sich bei­de – ent­ge­gen den Vor­schrif­ten – nicht. Da Flix­bus nach jeder Fahrt um eine Bewer­tung bit­tet, habe ich auf die beschrie­be­nen Umstän­de hin­ge­wie­sen. Zusätz­lich habe ich einen Brief an das Unter­neh­men geschrie­ben.

Unter­wegs am Flug­ha­fen

Der Weg vom neu­en Bus­bahn­hof zum Flug­ha­fen und zur S‑Bahnstation ist für Men­schen mit Seh­be­hin­de­rung kaum zu fin­den, da die Wege­füh­rung kom­pli­ziert ist und es außer­halb des Bus­bahn­ho­fes kein Leit­sys­tem gibt.

Mit der S‑Bahn vom Flug­ha­fen nach Fil­der­stadt

Einer der bei­den Roll­stuhl­fah­rer kam pro­blem­los allei­ne in die S‑Bahn hin­ein und wie­der hin­aus. Der ande­re benö­tig­te Hil­fe wegen der Lücke zwi­schen Bahn­steig­kan­te und Zug. Im Zug stell­te einer der bei­den Beglei­ter mit Seh­be­hin­de­rung (knapp zehn Pro­zent Seh­ver­mö­gen) fest, dass er kaum lesen kann, was auf den Moni­to­ren ange­zeigt wird. Die Schrift ist zu klein.

 

Mit dem Bus von Fil­der­stadt nach Nür­tin­gen

Die Klapp­ram­pe, die manu­ell bedient wer­den muss, ermög­licht vom erhöh­ten Bahn­steig aus einen pro­blem­lo­sen Ein­stieg. In Nür­tin­gen sind die schma­len Bus­stei­ge und vor allem die feh­len­den abge­flach­ten Bord­stei­ne ein Pro­blem (abge­flach­te Bord­stei­ne sind nicht nutz­bar, so lan­ge der Bus noch am Bus­steig steht).

Bahn­hof Nür­tin­gen

Ein Blin­den­leit­sys­tem ist ledig­lich auf den Bahn­stei­gen vor­han­den. Der Auf­zug funk­tio­niert. Die Bahn­stei­ge sind für die Regio­nal­zü­ge zu hoch. Die manu­el­le Ram­pe, die der Zug mit­führt und die im Inter­net ange­ge­ben („Fahr­zeug­ge­bun­de­ne Ein­stiegs­hil­fe vor­han­den“) ist, ist lei­der defekt. Einer der bei­den Rol­li­fah­rer muss hin­ein­ge­tra­gen wer­den. Der ande­re (ein Roll­stuhl­bas­ket­bal­ler) kommt mit einem gewag­ten Sprung mit­samt sei­nem Gefährt allei­ne in den Zug. Auf der defek­ten Ram­pe steht, man sol­le eine ande­re Türe oder einen ande­ren Wagen nut­zen. Sehr cle­ve­rer Tipp, denn es gibt kei­ne wei­te­re Ram­pe im Zug.

Haupt­bahn­hof Stutt­gart

Zum Aus­stieg muss ein Höhen­un­ter­schied auf­wärts über­wun­den wer­den. Hier­für benö­ti­gen bei­de Roll­stuhl­fah­rer Unter­stüt­zung. Der Mobi­li­täts­ser­vice hat uns bereits erwar­tet und hilft.

Fazit

Alle Auf­zü­ge haben funk­tio­niert. Die DB-Mit­ar­bei­te­rIn­nen und die Fern­bus­fah­rer waren äußerst freund­lich und hilfs­be­reit. Auch die Mit­rei­sen­den haben gehol­fen, wo Hil­fe not­wen­dig war. Zugleich muss­ten wir erle­ben, dass Ein­stiegs­hil­fen im Fern­bus und im Zug gefehlt haben bzw. defekt waren. Und häu­fig pas­sen die Bahn­steig­hö­hen und die Ein­stiegs­hö­hen der Fahr­zeu­ge nicht zusam­men. Men­schen mit Behin­de­rung wer­den häu­fig durch ver­meid­ba­re Hür­den in ihrer Mobi­li­tät behin­dert. Die Fle­xi­bi­li­tät beim Rei­sen, wie ich sie gewohnt bin, ist Men­schen mit Behin­de­rung zumeist ver­wehrt. Sie müs­sen ihre Rei­sen akri­bisch im Vor­aus pla­nen. Rei­sen in Grup­pen, das hat sich gezeigt, ist beson­ders schwie­rig oder sogar unmög­lich.

Es muss auch berück­sich­tigt wer­den, dass unse­re gesam­te Rei­se nur des­halb recht gut funk­tio­niert hat, weil alle Ver­kehrs­mit­tel nahe­zu pünkt­lich waren. Für die Poli­tik und die Ver­kehrs­un­ter­neh­men bleibt auf dem Weg zu einer bar­rie­re­frei­en Mobi­li­tät noch viel zu tun! Aber: Mobi­li­tät ist die Vor­aus­set­zung für Teil­ha­be! Für uns Poli­ti­ker (neben mir war noch Her­mi­no Kat­zen­stein MdL dabei) hat die Tour noch­mal sehr ein­drucks­voll die Hand­lungs­be­dar­fe auf­ge­zeigt.

Sehr scha­de war es, dass die Pres­se den Ein­la­dun­gen zu Gesprä­chen an kei­nem der vier Orte, zu dem unter­schied­li­che Zei­tun­gen ein­ge­la­den wur­den, gefolgt ist. Ist das kein The­ma für die Medi­en?