Ampel löst langen Reformstau auf:

23.01.2023

Wahlrecht wird geändert

Der Bun­des­tag hat knapp ein Vier­tel mehr Abge­ord­ne­te, als es das Gesetz vor­sieht. Dabei geht es nicht aus­schließ­lich um zu hohe Kos­ten, son­dern – in einer Demo­kra­tie viel wich­ti­ger – um die poli­ti­sche Hand­lungs­fä­hig­keit. Das Pro­blem ist lan­ge schon bekannt. Es wur­de aber über meh­re­re Legis­la­tur­pe­ri­oden aus­ge­ses­sen. Das ändert sich nun.

Wäh­rend die „gro­ßen“ Koali­tio­nen kei­ne Eini­gung erzie­len konn­ten oder teil­wei­se gar kei­nen zwin­gen­den Hand­lungs­be­darf sahen (wie die SPD), haben sich die drei Ampel-Frak­tio­nen nun auf eine Ände­rung des Wahl­rechts geei­nigt. Die Eini­gung sieht aus wie folgt: Die Zweit­stim­men (zukünf­tig „Haupt­stim­men“ genannt) ent­schei­den über die Anzahl der Man­da­te, wobei es kei­ne Über­hang- und damit auch kei­ne Aus­gleich­man­da­te mehr gibt. Dies bedeu­tet: Direkt­man­da­te gibt es in dem Umfang, wie sie durch den Zweit­stim­men­an­teil der jewei­li­gen Par­tei im jewei­li­gen Land gedeckt sind. Wenn also mehr Kandidat*innen einer Par­tei in den Wahl­krei­sen die meis­ten Erst­stim­men (zukünf­tig „Wahl­kreis­stim­me“ genannt) erhal­ten, als der jewei­li­gen Par­tei Man­da­te zuste­hen, bekom­men nicht mehr alle ein Man­dat. Die Man­da­te gehen ent­spre­chend der Stimm­an­tei­le an die Bewerber*innen – so lan­ge, bis die nach Haupt­stim­men zuste­hen­de Man­dats­zahl erreicht ist. Anders aus­ge­drückt: Zur Ver­tei­lung der Sit­ze wer­den inner­halb eines Bun­des­lan­des und einer Par­tei die Bewerber*innen mit den meis­ten Stim­men im jewei­li­gen Wahl­kreis nach ihrem Wahl­kreis­stim­men­an­teil gereiht. Die­ser Rei­he wer­den dann höchs­tens so vie­le Man­da­te zuge­ord­net, wie der Par­tei nach ihrem Haupt­stim­men­er­geb­nis im Bun­des­land zuste­hen. Das Wahl­ge­setz spricht daher nur noch von einer Ver­hält­nis­wahl und nicht mehr von einer „mit einer Per­so­nen­wahl ver­bun­de­nen Ver­hält­nis­wahl“. Ste­hen einer Par­tei in einem Land nach dem jewei­li­gen Haupt­stim­men­er­geb­nis mehr Man­da­te zu, als Direkt­man­da­te errun­gen wur­den, zieht – wie bis­her – die Lan­des­lis­te der Par­tei. Die Umbe­nen­nung der Zweit­stim­me in Haupt­stim­me macht die Wich­tig­keit die­ser Stim­me für die spä­te­ren Frak­ti­ons­stär­ken im Bun­des­tag deut­lich.

Wir set­zen das Ver­hält­nis­wahl­recht kon­se­quen­ter um als dies in der Ver­gan­gen­heit der Fall war. Es benach­tei­ligt kei­ne Par­tei und es ver­schafft kei­ner Par­tei einen Vor­teil. Der Ent­wurf unse­res Wahl­ge­set­zes wur­de unter Betei­li­gung renom­mier­ter Verfassungsrechtler*innen ent­wi­ckelt und ent­spricht daher nach unse­rer Ein­schät­zung den Grund­sät­zen der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zum Wahl­recht.

Vor­teil des neu­en Wahl­rechts

Es ist gewähr­leis­tet, dass der Bun­des­tag exakt so groß ist, wie es das Wahl­ge­setz vor­sieht: Das sind dann 598 Abge­ord­ne­te. Der Wil­le der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler an die Zusam­men­set­zung des Par­la­ments wird ohne Ver­zer­run­gen beach­tet. Jede Stim­me ist gleich viel Wert. Die Stär­ke der Par­tei­en rich­tet sich näm­lich exakt nach den jewei­li­gen Haupt­stim­men­an­tei­len. Eine kon­stan­te Grö­ße des Par­la­ments hat enor­me Vor­tei­le: Nach den Wah­len ent­fal­len mona­te­lan­ge Klä­rungs­pro­zes­se über die Unter­brin­gung der Abge­ord­ne­ten mit ihren Mitarbeiter*innen in den Büro­ge­bäu­den. Es ste­hen aus­rei­chend Büro- und Bespre­chungs­räu­me zur Ver­fü­gung. Es muss nicht nach jeder Wahl die Per­so­nal­aus­stat­tung der Ver­wal­tung zur Betreu­ung der Abge­ord­ne­ten ange­passt wer­den. Die Arbeits­fä­hig­keit des Par­la­ments ist gewähr­leis­tet. Das neue Wahl­recht bedeu­tet letzt­lich auch: Die Regie­rungs­frak­tio­nen und der Bun­des­tag erwei­sen sich mehr­heit­lich als reform­fä­hig, auch wenn es die Abge­ord­ne­ten sel­ber betrifft. Das muss extra betont wer­den: Wenn die Abge­ord­ne­ten über das neue Wahl­recht ent­schei­den, dann weiß jede und jeder von ihnen, dass sie per­sön­lich vom Ent­fall von Man­da­ten betrof­fen sein kön­nen. Wir Grü­nen hät­ten nach dem neu­en Wahl­recht 22 Man­da­te weni­ger, als wir bei der letz­ten Wahl im Jahr 2021 tat­säch­lich erreicht hat­ten.

Kri­tik am neu­en Wahl­recht

Der Ver­zicht auf Über­hang­man­da­te kann dazu füh­ren, dass ein­zel­ne Wahl­krei­se nicht mehr im Bun­des­tag ver­tre­ten sein wer­den. Dies tritt dann ein, wenn die Kandidatin/der Kan­di­dat mit den meis­ten Wahl­kreis­stim­men immer noch einen zu gerin­gen Stimm­an­teil erzielt hat und wegen der unzu­rei­chen­den Deckung durch Haupt­stim­men im jewei­li­gen Land das Man­dat nicht erhält. Wenn von den ande­ren Par­tei­en nie­mand auf einem aus­rei­chend erfolg­rei­chen Platz der jewei­li­gen Lan­des­lis­te nomi­niert wor­den war, geht der Wahl­kreis „leer“ aus. Die­ser Fall kann ein­tre­ten. Pro­gno­sen zufol­ge wird er aber nur sel­ten ein­tre­ten. Auf Basis der Ergeb­nis­se der letz­ten Bun­des­tags­wahl wären ledig­lich fünf der ins­ge­samt 299 Wahl­krei­se „unbe­setzt“ geblie­ben. Bei­spiel aus mei­nem Wahl­kreis „Nür­tin­gen“, über­tra­gen auf das neue Wahl­recht: Hät­te der CDU-Bewer­ber bei der letz­ten Wahl nicht genü­gend Wahl­kreis­stim­men erhal­ten, um wegen eines zu schwa­chen lan­des­wei­ten Haupt­stim­men­er­geb­nis­ses sei­ner Par­tei ein Direkt­man­dat zu erhal­ten, so wären immer noch die drei Abge­ord­ne­ten von SPD, Grü­nen und FDP in den Bun­des­tag ein­ge­zo­gen. Der Wahl­kreis wäre also noch immer gut im Bun­des­tag ver­tre­ten gewe­sen. Übri­gens kann es auch nach dem alten Wahl­recht unbe­setz­te Wahl­krei­se geben: Beim Aus­schei­den von Wahl­kreis­ab­ge­ord­ne­ten rückt für die jewei­li­ge Par­tei jemand von der Lan­des­lis­te, nicht aber für den ent­spre­chen­den Wahl­kreis nach. Im kon­kre­ten Fall, in dem mein direkt gewähl­ter CDU-Kol­le­ge in die­sen Tagen vor­zei­tig aus dem Bun­des­tag aus­schei­det, wäre der Wahl­kreis also nicht mehr im Bun­des­tag ver­tre­ten, gäbe es nicht die Abge­ord­ne­ten der drei ande­ren Par­tei­en. Es soll­te noch dazu gesagt wer­den, dass Direkt­man­da­te zuletzt immer häu­fi­ger mit sehr schwa­chen und wenig über­zeu­gen­den Stimm­ergeb­nis­sen von teil­wei­se weni­ger als 20 Pro­zent gewon­nen wor­den waren.

Vor­schlag aus der Uni­ons­frak­ti­on

Die Uni­on schlägt nun, nach­dem sie jah­re­lang regiert und kei­ne Wahl­rechts­re­form zustan­de gebracht hat­te, die Ver­rin­ge­rung der bis­her 299 Wahl­krei­se vor. Dies ist zunächst ein­mal ein eben­bür­di­ger Vor­schlag, den ich mir min­des­tens genau­so gut (viel­leicht sogar bes­ser) hät­te vor­stel­len kön­nen. Jetzt kom­men zwei „Aber“: Wahl­kreis­zu­schnit­te lösen vor Ort fast immer hef­ti­ge, lan­ge Debat­ten aus. Zuord­nun­gen von Kom­mu­nen zu ande­ren Wahl­krei­sen kön­nen dazu füh­ren, dass die­se aus Zuge­hö­rig­keits­ge­füh­len her­aus geris­sen wer­den. Lan­ge Klä­rungs­pro­zes­se kön­nen wir uns aber nicht leis­ten, wenn wir bereits zur nächs­ten Wahl end­lich die Ver­klei­ne­rung des Bun­des­tags errei­chen wol­len. Hin­zu kommt, dass die Uni­ons­frak­ti­on bis zu 15 Über­hang­man­da­te nicht aus­glei­chen will. Die Uni­on ver­fälscht damit den Wil­len der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler, der sich in den Haupt­stimm­ergeb­nis­sen aus­drückt. Dies wür­de (aus heu­ti­ger Sicht) vor allem der CSU ein­sei­tig nut­zen. Unser Vor­schlag hin­ge­gen nutzt und scha­det kei­ner Par­tei. Der Pro­porz bleibt gewahrt und der Bun­des­tag ent­spricht mit der Anzahl der Man­da­te exakt der gesetz­li­chen Regel­grö­ße. Ein wei­te­rer Aspekt, der am Uni­ons­vor­schlag kri­tisch ist: Es soll die Grund­man­dats­klau­sel dahin­ge­hend geän­dert wer­den, dass fünf statt bis­her drei Direkt­man­da­te erfor­der­lich sind, um auch Lan­des­lis­ten zum Zuge kom­men zu las­sen, wenn die Fünf-Pro­zent-Hür­de bun­des­weit ver­fehlt wur­de. Mit dem Uni­ons­vor­schlag wäre die Lin­ke außer mit ihren drei Direkt­man­da­ten nicht mehr im Bun­des­tag ver­tre­ten. Der Uni­ons­vor­schlag wür­de also zu Ver­schie­bun­gen zwi­schen den Par­tei­en füh­ren. Wir ver­mei­den dies mit unse­rem Vor­schlag. Alle Par­tei­en ver­lie­ren Man­da­te in gleich­mä­ßi­ger Rela­ti­on zu den Stimm­ergeb­nis­sen.

Fazit

Die Refor­mie­rung des Wahl­rechts behebt end­gül­tig das lang­jäh­ri­ge Pro­blem des unvor­her­seh­ba­ren Anwach­sens des Bun­des­ta­ges. Es wird kei­ne Par­tei bevor­zugt und kei­ne Par­tei benach­tei­ligt.

Bereits zu Oppo­si­ti­ons­zei­ten hat­ten wir für eine Wahl­rechts­re­form gestrit­ten. Gemein­sam mit FDP und Lin­ken hat­ten wir einen Gesetz­ent­wurf erar­bei­tet. Sie­he https://www.matthias-gastel.de/ampel-vorschlag-fuer-kleineren-bundestag/