Aufklärung der Zugentgleisungen in Stuttgart: Kaschiert und verharmlost

Hinweis: Dieser Beitrag ist schon älter und wurde möglicherweise noch nicht in das neue Format umgewandelt.

Stuttgart Hbf. Gleis 10

09.01.2016

Zur Hintergrundinformation

Im Juli sowie im Sep­tem­ber 2012 kam es bei der Aus­fahrt aus Gleis 10 des Stutt­gar­ter Haupt­bahn­hofs zu Zug­ent­glei­sun­gen. Betrof­fen waren bei­de Male Inter­ci­ty­zü­ge. Bei der ers­ten Ent­glei­sung ent­stand ein Sach­scha­den in Höhe von 370 000 Euro. Bei der zwei­ten Ent­glei­sung wur­den acht Per­so­nen ver­letzt und es ent­stand ein Sach­scha­den von rund 1,7 Mio. Euro. Die bei­den Ent­glei­sun­gen wur­den von der Eisen­bahn-Unfall­un­ter­su­chungs­stel­le des Bun­des (EUB) unter­sucht. Zur Auf­klä­rung der Unfall­ur­sa­che wur­de im Okto­ber 2012 eine Ver­suchs­fahrt durch­ge­führt, die eben­falls eine Ent­glei­sung zur Fol­ge hat­te. Im Unter­su­chungs­be­richt der EUB vom April 2014 wer­den die Ent­glei­sun­gen haupt­ur­säch­lich auf ein Ver­sa­gen von Puf­fern an den Rei­se­zug­wa­gen zurück­ge­führt. Die bei allen drei Ent­glei­sun­gen befah­re­ne Aus­fahr­zug­stra­ße muss­te für das Pro­jekt Stutt­gart 21 weit­rei­chend umge­baut wer­den, um Platz für die Bau­gru­be zu schaf­fen. Bei die­sem Umbau wur­de mehr­fach und auf engem Raum von lang­jäh­rig erprob­ten Regel­wer­ten sowie Soll-Vor­ga­ben abge­wi­chen. Den­noch bewer­tet die EUB infra­struk­tu­rel­le Ein­flüs­se ledig­lich als begüns­ti­gend für den Unfall­her­gang.

Wei­ter­hin kam es in der Unfall­un­ter­su­chung zu zahl­rei­chen Unge­reimt­hei­ten. So ver­schwan­den zum Bei­spiel rele­van­te Puf­fer der ver­un­fall­ten Fahr­zeu­ge spur­los. Zudem unter­schei­det sich der Unfall­be­richt augen­schein­lich von ver­gleich­ba­ren Berich­ten der EUB: Er ist deut­lich weni­ger detail­liert, anders struk­tu­riert und ver­zich­tet auf kon­kre­te Schluss­fol­ge­run­gen. Der­ar­ti­ge Umstän­de erschwe­ren es erheb­lich, wich­ti­ge Leh­ren aus den Unfäl­len zie­hen zu kön­nen.

Wie von der Bun­des­re­gie­rung in ihrer Ant­wort auf die Klei­ne Anfra­ge der Frak­ti­on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Jahr 2014 zu die­sem The­ma erläu­tert, wur­den stren­ge Auf­la­gen für den Betrieb auf den betrof­fe­nen Glei­sen erlas­sen, um wei­te­re Ent­glei­sun­gen in Stutt­gart zu ver­hin­dern.

Neben der all­ge­mei­nen Auf­klä­rung der Unfall­un­ter­su­chungs­pra­xis war es ein wei­te­res Ziel einer zwei­ten Klei­nen Anfra­ge von Mat­thi­as Gastel, MdB und der Bun­des­tags­frak­ti­on Bünd­nis 90/Die Grü­nen, die aus die­sen Auf­la­gen resul­tie­ren­den Ein­schrän­kun­gen des Schie­nen­ver­kehrs am Stutt­gar­ter Haupt­bahn­hof bewer­ten zu kön­nen. Auch wur­den Fra­gen, die in der zurück­lie­gen­den Klei­nen Anfra­ge von der Bun­des­re­gie­rung unvoll­stän­dig oder über­haupt nicht beant­wor­tet wur­den, hier erneut gestellt. So zum Bei­spiel die zur Ein­ord­nung der Vor­fäl­le in Stutt­gart zen­tra­le Fra­ge, wo in Deutsch­land eine sol­che Tras­sie­rung noch auf­tritt.

 

Bewertung der Zugentgleisungen nach der Auswertung der zweiten Kleinen Anfrage:

Nach wie vor kein Inter­es­se an der Auf­klä­rung der Zug­ent­glei­sun­gen – Wah­re Ursa­chen wer­den kaschiert, um wei­te­re Nega­tiv­bot­schaf­ten von Stutt­gart 21 abzu­wen­den – Betrieb­li­che Ein­schrän­kun­gen gra­vie­ren­der als bis­lang ange­nom­men

Die Bun­des­re­gie­rung spricht wei­ter­hin vom Zusam­men­wir­ken meh­re­rer Fak­to­ren, die zu den Zug­ent­glei­sun­gen geführt hät­ten. Sie benennt kon­kret vier Ein­fluss­fak­to­ren, von denen jedoch drei vie­ler­orts auf­tre­ten. Ein­zig die unge­wöhn­li­che Tras­sie­rung ist nur in Stutt­gart vor­zu­fin­den, wie die Bun­des­re­gie­rung bestä­tigt. Nir­gend­wo sonst in Deutsch­land gibt es eine solch aben­teu­er­li­che Wei­chen­ver­bin­dung wie im Stutt­gar­ter Haupt­bahn­hof. Die­se Wei­chen­kon­struk­tio­nen mit engen Radi­en wur­den im Zusam­men­hang mit dem Bau von Stutt­gart 21 geschaf­fen, um genü­gend Platz für die Bau­stel­le zu gewin­nen. Auch wenn es der Bun­des­re­gie­rung und der Deut­schen Bahn nicht gefällt: Die Unfäl­le sind die unmit­tel­ba­re Fol­ge von Umbau­maß­nah­men im Gleis­vor­feld für den Bau von Stutt­gart 21! Sicher­heits­auf­la­gen für die ein­ma­li­ge Tras­sie­rung wur­den erst Mona­te nach den Zug­ent­glei­sun­gen erlas­sen. So dür­fen die Bahn­steig­glei­se 8 und 10 von weni­gen Aus­nah­men abge­se­hen nur noch von Trieb­zü­gen befah­ren wer­den. Dies trifft auf ICE-Züge zu. Betrieb­li­che Ein­schrän­kun­gen erge­ben sich außer­dem bei Ein- und Aus­fahr­ten über Bad Cannstatt und für Züge mit einer Län­ge von mehr als 380 Metern. Spei­se­wa­gen mit einer Län­ge von 27,50 Metern muss­ten als Fol­ge der Tras­sie­rung in Stutt­gart bun­des­weit aus dem Ver­kehr gezo­gen wer­den. Drei Jah­re nach den Zug­ent­glei­sun­gen wur­de auf Bun­des­ebe­ne das ent­spre­chen­de Regel­werk ent­spre­chend der Sicher­heits­emp­feh­lun­gen der Eisen­bahn-Unfall­un­ter­su­chung noch immer nicht ange­passt.

 

Fazit von Matthias Gastel:

„Wir haben inzwi­schen die zwei­te Anfra­ge an die Bun­des­re­gie­rung gerich­tet, um die Vor­gän­ge auf­zu­klä­ren und für Trans­pa­renz zu sor­gen. Doch die Bun­des­re­gie­rung ant­wor­tet auf ein Drit­tel der Fra­gen aus­wei­chend oder über­haupt nicht. Wich­ti­ge Doku­men­te wer­den mit faden­schei­ni­gen Begrün­dun­gen geheim gehal­ten. Hin­zu kommt, dass die Bun­des­re­gie­rung die Zwei­fel an der tat­säch­li­chen Unab­hän­gig­keit der Eisen­bahn­un­fall­un­ter­su­chungs­stel­le sel­ber nährt. Die Unfall­un­ter­su­chung in Stutt­gart war nicht zufrie­den­stel­lend. Dies zei­gen Unge­reimt­hei­ten im Unter­su­chungs­pro­zess und ein wenig erhel­len­der Unfall­be­richt. Ein Ver­gleich mit dem aktu­ell erschie­nen Unfall­un­ter­su­chungs­be­richt zu der Zug­kol­li­si­on im Jahr 2014 im Mann­hei­mer Haupt­bahn­hof zeigt die Unter­schie­de: Die­ser Bericht ist ein­wand­frei uns lässt kei­ne Fra­gen offen. Die Unfall­un­ter­su­chungs­stel­le kann es also – wenn man sie lässt! Damit wird wie­der mal deut­lich, dass die Bun­des­re­gie­rung und die DB nach wie vor kei­ner­lei Inter­es­se haben, die Zug­ent­glei­sun­gen auf­zu­klä­ren. Sie kaschie­ren, ver­harm­lo­sen und negie­ren selbst das, was offen­kun­dig ist. Der Zusam­men­hang mit Stutt­gart 21 ist ihnen sicht­lich unan­ge­nehm. In Stutt­gart wur­de, um Platz für die Bau­stel­le zu gewin­nen, eine bun­des­weit ein­ma­lig gefähr­li­che Gleis­si­tua­ti­on geschaf­fen. Um wei­te­re Gefähr­dun­gen von Fahr­gäs­ten abzu­wen­den, müs­sen seit drei Jah­ren mas­si­ve betrieb­li­che Ein­schrän­kun­gen hin­ge­nom­men wer­den, die sich weit über den Stutt­gar­ter Haupt­bahn­hof hin­aus aus­wir­ken. Die Bun­des­re­gie­rung kaschiert die tat­säch­li­chen Unfall­ur­sa­chen und die Fahr­gäs­te baden aus, was die DB fahr­läs­sig ange­rich­tet hat.“

Hier fin­den Sie die Klei­ne Anfra­ge mit­samt den Ant­wor­ten der Bun­des­re­gie­rung:

http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/063/1806310.pdf