Barrierefreiheit kommt nur langsam voran
Bund hat kein Ziel für barrierefreie Bahnhöfe
„Barrierefreiheit“ – für manche „nice to have“, für immer mehr Menschen jedoch ist das die zwingende Voraussetzung für Mobilität und damit für Teilhabe.
Wer kennt das nicht: Viele Koffer dabei, doch am Bahnhof ist der Aufzug defekt. Ärgerlich. Für diejenigen, die im Rollstuhl sitzen ist das mehr als ärgerlich. Womöglich endet die Reise, bevor sie richtig begonnen hat. Mit einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung haben wir einmal mehr die Fortschritte bei der Barrierefreiheit abgefragt. Konkret ging es um die physisch barrierefreien Zugänge von Bahnsteigen und Zügen.
Im Verantwortungsbereich der Deutschen Bahn – und damit des Bundes – befinden sich 9.234 aktive Bahnsteige. Davon sind 7.712 (entspricht 84 Prozent) stufenfrei erreichbar. Die meisten davon sind höhengleich erreichbar, gefolgt von denjenigen, die mit Aufzügen versehen sind. Deren Verfügbarkeit liegt bei 97 bis 98 Prozent. Das dürfte viele wundern, da subjektiv eine andere Wahrnehmung vorherrschen dürfte. Fakt ist jedenfalls auch, dass Reparaturen bisweilen sehr lange dauern. Etwa vier Prozent der Ausfälle hielten länger als 14 Tage an. Auch, wenn die Verfügbarkeit der Aufzüge rein statistisch hoch ist, müssten weitere Verbesserungen möglich sein. Darauf deutet hin, dass Materialermüdungen und Materialfehler zu den häufigsten Störungsursachen zählen. Es gibt also noch Luft nach oben durch die Stärkung von präventiver Instandhaltung.
Nur an knapp 400 der insgesamt 5.400 Bahnhöfen stehen personenbediente Hublifte und mobile Rampen zur Verfügung, um Menschen im Rollstuhl in die Züge und aus den Zügen heraus helfen zu können. Damit bleibt das Hinein- und Herauskommen die größte Behinderung für Menschen, die auf physische Barrierefreiheit angewiesen sind. Im Regionalverkehr von DB Regio verfügen inzwischen rund 90 Prozent der Fahrzeuge über fahrzeuggebundene Ein-/Ausstieghilfen. Häufig müssen diese zum Einsatz kommen, weil Bahnsteighöhen und Fußbodenhöhen der Züge nicht übereinstimmen. In Deutschland hat sich historisch ein Bahnnetz mit unterschiedlichen Bahnsteighöhen (55/76/96 Zentimeter) entwickelt. Das ist zugegebener Weise nur sehr schwer aufzulösen.
Vielfach wäre aber klar, was die geeignete Bahnsteighöhe wäre – und es tut sich doch nichts. Für die stufenfreie Erreichbarkeit der Bahnsteige gilt das noch viel mehr. Aber an gut 1.000 von insgesamt 9.000 Bahnsteigen gibt es noch keinerlei Aktivität zur stufenfreien Erreichbarkeit! Noch schlimmer: Es gibt überhaupt kein zeitliches Ziel für die (weitgehend) vollständige Barrierefreiheit bei der Bahn. Die Bundesregierung hat den Ländern und Kommunen schon vor Jahren vorgeschrieben, bis wann sie Bus- und Straßenbahnhaltestellen barrierefrei umgebaut haben müssen. Doch dort, wo sie selber Verantwortung trägt, setzt sie sich noch nicht einmal ein Ziel.
Kommentare zu “Barrierefreiheit kommt nur langsam voran”
Sehr geehrter Herr Matthias Gastel,
zumindest ich habe mich über die Fragestellung bei Ihrer gar nicht so kleinen Anfrage an die Bundesregierung gefreut. Bei den Antworten war das – wie bei einem Betroffenen zu erwarten – nicht ganz so der Fall.
Durch die Vielzahl der Fragen wird manches deutlich, was sonst mit salbungsvollen Worten oder bunten Bildchen beschrieben und doch verschleiert wird. Beispiel aus den Antworten zu Frage 36 und 37: Es sind 2.737 von 9.234 der aktiven Bahnsteige auf Höhe 76 cm, also knapp unter 30 Prozent. Das wird gefolgt von einer bunten Karte, bei der sich Deutschland durch die Kennfarbe für dominierende Bahnsteighöhe 76 cm von seinen Nachbarn Frankreich, Schweiz, Österreich und Tschechien abhebt. Nach den Zahlen der genannten Tabelle dominiert aktuell eigentlich seit Jahren unverändert die Kategorie “für alle Fahrzeuge ohne Nutzung von Einstiegshilfen zu niedrig” oder auch “bis 38 cm Höhe” mit 3.283 der aktiven Bahnsteige (also 35,5 Prozent).
Bei dem leidigen Thema Aufzüge und digitale Information zur Barrierefreiheit nur so meine Anmerkung: viele Monate war der Aufzug im Bahnhof Ludwigshafen (Rhein) Mitte zu Gleis 1 nicht nutzbar. Heute, am 14.05.2020, habe ich mal auf der Website http://www.bahnhof.de nachgeschaut, ob der inzwischen “geht”. Es ist lediglich die Angabe, der Aufzug zu Gleis 2/3 sei in Betrieb, aufgeführt. Auch Monate nach Fertigstellung des neuen Aufzugs, der sich mit Vertröster-Gründen wie “Ersatzteilmangel” (bei einem Komplett-Austausch!) und “Vandalismus” (der Sprecher der DB konnte der Presse auf Rückfrage aber nicht sagen, was denn vandaliert worden wäre) hat es die DB auf der eigenen Website nicht hinbekommen, den Status überhaupt wieder aufzunehmen. Hauptsache, die Zahlen für die Statistik sind schön aufgepeppt. 98% oder so. Die Betroffenen sehen das anders. An der neu gestalteten DB-Information 4.0 stoße ich mir im Rollstuhl sitzend am unterfahrbaren Tresen das Knie. Nachgemessen: das Maß für unterfahrbare Waschtische wurde grenzwertig genau eingehalten. Ihre Frage war berechtigt, ob sich denn jemand bei der DB um übergeordnete Zusammenhänge kümmert, denn solche Albernheiten zeigen, daß wohl keiner wirklich ein Auge darauf hat.
Übrigens geht es auch beim ÖPNV in der Zuständigkeit der Länder und Kommunen eher behäbig voran. Bekanntlich kam die Idee auf, die “Vollständige Barrierefreiheit im ÖPNV” wäre mit irgendwelchen Gründen in Nahverkehrsplänen abzuwenden wie ein böser Fluch. Ganz frisch aus einer Beteiligung einer Behinderten-Organisation zu einer Bushaltestelle: In einer der Zeichnungen wurde die “offene Frage” vermerkt “ist Herstellung der Barrierefreiheit nach PBefG erforderlich? Haltestelle voraussichtlich 6–8 Jahre”. Immerhin wurden ein Fahrgastunterstand und ein taktiler Leitstreifen in zwei unterschiedlichen Zeichnungen so “gemalt”, daß das räumlich kollidiert. Für unsere neuen S‑Bahn-Triebwagen hat die NVBW in Stuttgart für uns Stufen an sechs Stellen in den Mittelgängen bestellt, im Gegensatz zu den bisherigen Fahrzeugen (maßgebliche Bahnsteighöhe 0,76 m). Die Rampen in den Gängen sind zwar schaffbar, doch eine technische Notwendigkeit dafür ist nicht gegeben, sie wären voll vermeidbar gewesen.
Schön, daß Sie in der Anfrage auch auf die barrierefreie Nutzbarkeit neuer Schienenfahrzeuge eingegangen sind. Viele der in der Vergangenheit aufgetauchten Probleme wären bei frühzeitiger Beteiligung von auf diesem Gebiet aktiven Behinderten-Organisationen vermeidbar gewesen. Frühzeitig meint nicht die Vorstellung eines Mock-Ups oder gar der Serienfahrzeuge, denn dann sind schon viele Zwänge durch Festlegungen kaum noch aus der Welt zu schaffen und ein “Umbau” sowieso zu teuer.
Die Antwort zur Frage 20 zeigt, wie wenig die vermutete “Hierarchie” in der Organisation der Behindertenverbände verstanden wird. Schön, daß Sie auch ausdrücklich nach dem “Feed-back von Behindertenvertretern” gefragt haben (Frage 24). Miteinander reden, damit die Probleme der anderen Seite verstanden werden können und werden, würde die Menschen weiter bringen. Die 67 cm Kniefreiheit bei einem Info-Schalter mit Waschtisch-Eigenschaften und die 18 % für Rampen mögen je festgeschrieben sein, doch Sprecher von Aufgabenträgern, die von sich aus sagen “Wir wissen”, daß etwas nicht ausreicht und machen es trotzdem zeigen, wie es eben keine vernünftigen Lösungen geben wird. Lieber “Ohne Euch über Euch” ist nicht der richtige Weg.
Nochmals: Dankeschön dafür, daß Sie sich um die Thematik kümmern.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Kittendorf
Gerne. Ich bleibe dran!