31.01.2021, ergänzt am 01.03.2021
Siemens beantwortet Fragen zum „Velaro Novo“
Die ICE 1, 2, 3 und 4 kennen wir (fast) alle. Doch was könnte danach kommen? Siemens arbeitet bereits seit längerem am zukünftigen ICE und testet Prototypen seit zwei Jahren. „Der Neue“ soll schneller sein, weniger Strom verbrauchen, leiser fahren und für die Innenausstattung eine höchstmögliche Flexibilität bieten.
Ich habe Michael Kopp, Programm Director Velaro Novo bei Siemens Mobility, einige Fragen zur Entwicklung und dem Profil des neuen Zuges gestellt.
Herr Kopp, welche Veränderungen im Bahnwesen machten es notwendig, einen neuen Typ von Hochgeschwindigkeitszug zu entwickeln?
Die Fahrgastzahlen im Fernverkehr steigen seit Jahren. Betreiber von Hochgeschwindigkeitszügen stehen zugleich im Wettbewerb mit dem Flugverkehr und neuen Anbietern von Fernverbindungen auf der Straße. Zukunftssichere Züge mit reduzierten Lebenszykluskosten und hohem Reisekomfort sind für den Hochgeschwindigkeitsverkehr auf der Schiene daher wichtiger denn je. Wir haben den neuen Velaro Novo konsequent nach diesen Anforderungen entwickelt. Vom ausgefeilten Konzept bis hin zur innovativen Technik. Das Fahrzeugkonzept setzt Maßstäbe in puncto Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit – Betreiber profitieren von geringen Instandhaltungskosten, niedrigem Energieverbrauch und maximierter Verfügbarkeit.
Der Velaro Novo wirbt mit einer Energieersparnis von 30% gegenüber den aktuellen Zügen. Wodurch wird diese Energieeinsparung erreicht?
Gegenüber bisherigen Velaro-Modellen verbraucht der Velaro Novo rund 30 Prozent weniger Energie und spart damit jährlich rund 2.700 Tonnen CO2 (bei Strom aus fossilen Kraftwerken) ein. Eine wesentliche Voraussetzung für die erhöhte Energieeffizienz und die damit deutlich reduzierten Lebenszykluskosten ist die konsequent verbesserte Aerodynamik. Die vollverkleideten Drehgestelle reduzieren den Energieverbrauch und senken außerdem die Lärmemissionen. Die strömungstechnisch weiter optimierten Endwagen mit einer stärker geneigten Frontfläche tragen ebenso wie die außenhautbündigen Wagenübergänge zu einem deutlich reduzierten Fahrwiderstand bei und verringern so den Energieverbrauch. Auch die Hochspannungsanlage auf dem Dach ist vollverkleidet und verbessert die Aerodynamik.
Hinzu kommt, dass der Velaro Novo gegenüber den bisherigen Velaro-Generationen um mehr als 15 Prozent leichter ist. Neue Profil- und Schweißtechnologien für die Wagenkästen, massetechnisch optimierte, innengelagerte Drehgestelle, leichtere Bordnetzumrichter und der Einsatz innovativer Werkstoffe und Konstruktionslösungen sind nur einige der Entwicklungen, die zu einer Reduktion des Zuggewichtes um über 70 Tonnen führen. Innengelagerte Drehgestelle haben sich bei den in Großbritannien eingesetzten Desiro-City-Triebzügen bewährt und wurden für den Velaro Novo weiterentwickelt. Auch die Lauf- und Antriebsdrehgestelle sind durch die innengelagerten Radsätze erheblich leichter und gewährleisten durch ihre geringere ungefederte Masse eine bessere Laufruhe und weniger Verschleiß.
Durch welche Vorteile im Vergleich zu anderen Hochgeschwindigkeitszügen besitzt der Velaro Novo einen deutlich reduzierten Kostenaufwand bei der Instandhaltung?
Ein gutes Beispiel ist die weitgehend verschleißfreie, elektrische Hochleistungsbremse, die den Instandhaltungsaufwand der Bremsanlage deutlich reduziert. Darüber hinaus können – wenn es der Kunde wünscht – die laufend erfassten Zustandsdaten des Fahrzeugs analysiert und für vorausschauende Instandhaltung und zustandsorientierte Wartung genutzt werden.
Seit Mitte 2018 gibt es bereits einen Testwagen, welcher in einem Testzug erprobt wird. Welche Komponenten des neuen Velaro Novo wurden bisher und werden noch in diesem Zug erprobt? Welche Erkenntnisse wurden durch die Tests gewonnen und wie werden diese in den Serienzug übernommen?
Unser #seeitnovo Testwagen, integriert in den ICE S der DB Systemtechnik, absolviert seit 2018 Testfahrten in ganz Deutschland. Dabei wurden bisher mehr als 100.000 Kilometer mit Geschwindigkeiten von bis zu 360 km/h zurückgelegt. Die Erprobung findet unter verschiedenen Betriebsbedingungen statt, bei denen unter anderem das Verhalten des Wagenkastens und der Drehgestelle aufgezeichnet und analysiert wird. Diese Daten dienen der projektunabhängigen Erprobung und Absicherung der wesentlichen Fahrzeugeigenschaften.
In den ersten zwei Jahren haben wir überwiegend Tests zum schwingungs- und lauftechnischen Verhalten durchgeführt. 2019 standen dann auch Bremsleistungstests im Fokus, um die Erlaubnis zu erhalten, den Wagen auch ohne besondere Überwachung bis 300 km/h (maximale Betriebsgeschwindigkeit in Deutschland) zu betreiben. Seit Juli 2019 nimmt der Testwagen an regelmäßigen Infrastruktur-Inspektionsfahrten teil.
Außerdem haben wir Tests zum Verschleißverhalten von Bremssystemen durchgeführt, verschiedene technische Lösungen etwa für Drehgestell- und Seitenverkleidungen (beispielsweise Aluminium und CFK) erprobt sowie erste Tests für den Stromabnehmer gestartet. Im Winter 2020 haben wir Hochgeschwindigkeiten bis 360 km/h getestet.
Da der #seeitnovo Testwagen in seinen wesentlichen Bauteilen (unter anderem der Wagenkasten, die Drehgestelle und Bremsanlage) der Serienausführung entspricht, erfolgt damit auch schon die Erprobung für die Serienausführung.
Welche Innovationen im Fahrgastraum können im Velaro Novo umgesetzt werden?
Die Wagenkästen des Velaro Novo sind in Leichtbaustruktur ausgeführt und folgen dem Prinzip der leeren Röhre. Das bedeutet, dass keine festen oder unverrückbaren Einbauten vorhanden sind und sich die Innenräume nach den Vorstellungen des Kunden einrichten lassen und auch im Lauf der Zeit geändert werden können, wenn sich die Ansprüche ändern. Technische Einbauten im Innenraum sind auf ein Minimum reduziert und werden zur Optimierung von Kabelwegen und Gewichtsersparnis funktional zugeordnet. Damit steht den Fahrgästen die maximal mögliche Kapazität zur Verfügung.
Für welche Stromsysteme wird der Velaro Novo ausgelegt sein und welche Länderzulassungen wird er erhalten?
Der Velaro Novo ist für die Stromversorgung mit AC 25kV und/oder AC 15 kV ausgelegt. Damit kann er auf den nach heutigen internationalen Standards ausgeführten Hochgeschwindigkeitsstrecken eingesetzt werden. Er ist damit aber auch für den Einsatz in Deutschland hervorragend geeignet.
Deutschland und auch andere Länder setzen auf den Ausbau der Bahnangebote und deutlich wachsende Fahrgastzahlen. Doppelstockzüge können einen Beitrag dazu leisten, auf begrenzter Infrastruktur mehr Fahrgäste zu befördern. Weshalb soll es den Velaro Novo nicht auch als Doppelstockzug geben?
Der Velaro Novo besitzt eine unter dem Zug verteilte Traktionsausrüstung. Den Passagieren steht damit nahezu die gesamte Zuglänge zur Verfügung. Bei Doppelstocktriebzügen muss die notwendige und bei hohen Geschwindigkeiten umfangreiche Energieversorgungs- und Traktionsausrüstung entweder im Innenraum oder in Form von Lokomotiven (Triebköpfen) an den Zugenden installiert werden. Das reduziert den zur Verfügung stehenden Platz bereits deutlich. Aber auch notwendige Treppenhäuser und Gepäckregale aufgrund fehlender Ablagen im Oberdeck reduzieren die Sitzplatzkapazität bei gleichzeitig deutlich niedrigerem Fahrgastkomfort. Auch die Fahrgastwechselzeiten werden durch Treppenhäuser erhöht. Single-Deck Triebzüge sind aus unserer Sicht daher die für den Hochgeschwindigkeitsbetrieb und den Fahrgastkomfort optimale Lösung.
Wann wir der erste Zug der Öffentlichkeit präsentiert und wann wird er in den Passagierbetrieb gehen?
Wir sind startklar, benötigen aber natürlich einen Auftrag, um den Zug zu bauen. Sobald wir einen Kunden haben, wird der erste Zug gebaut, der Öffentlichkeit präsentiert und in Passagierbetrieb gehen.
Welcher Absatzmarkt ist für die Siemens-Zugsparte am bedeutendsten? Welche Rolle spielt Deutschland als Absatzmarkt für Züge von Siemens?
Natürlich würde es uns sehr freuen, den Velaro Novo in unserem Heimartmarkt auf die Schiene zu bringen. Der Zug berücksichtigt alle Anforderungen für einen Betrieb in Deutschland. Generell ist der Velaro Novo aber weltweit für jeden Betreiber von Hochgeschwindigkeitszügen – mit seinen wirtschaftlichen Vorteilen und seinem Fahrgastkomfort – ein sehr interessantes Produkt.
Nachträglich beantwortete mir Siemens Mobility noch zwei Fragen, die mir von Leser*innen gestellt worden waren:
Ist der neue Zug auf eine Bahnsteighöhe von 76 Zentimeter ausgelegt und ist der Eingang stufenlos?
“Wir werden beim Velaro Novo auch eine Lösung für einen niveaugleichen, barrierefreien, autonomen Einstieg für den 760mm Bahnsteig anbieten. Dies ermöglicht eine sehr komfortable Zustiegssituation auch für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste oder Fahrgäste mit schwerem Gepäck. Die Anzahl der Türen ist maximiert und erlaubt einen digital geführten Fluss zur Optimierung von Ein- und Ausstiegssituationen an den Fernverkehrs-Bahnhöfen.”
Wird der besagte Zug schmäler sein als seine Vorgänger und wenn ja, wird dies dann auch auf den Innenraum eine Auswirkung haben?
“Nein, wird er nicht. Durch Optimierung aller Einflussparameter und des Seitenwandaufbaus ist es uns sogar gelungen, die Innenbreite beim Velaro Novo gegenüber dem Velaro D geringfügig zu vergrößern.”