Rauer Ton und Lügen sind die Feinde unserer Demokratie
Mehrere sich überschneidende Entwicklungen in Deutschland und der Welt stellen eine Bewährungsprobe für unsere Demokratie und unsere Grundrechte dar. Nicht zuletzt ist es die Globalisierung, die zu einer wachsenden Unübersichtlichkeit von Abhängigkeiten und Einflüssen auf die Politik und das (Er)Leben der Menschen führt. Vieles verändert sich rasend schnell: Die Medien, Informations- und Kommunikationswege, die Arbeitswelt, weltweite Migrationsbewegungen und einiges mehr. Vieles von dem, was früher verhältnismäßig einfach und übersichtlich erschien, wird zunehmend komplexer und löst bei vielen Menschen das Gefühl aus, nicht mehr mitzukommen. Die Gesellschaft läuft Gefahr, an verschiedenen Trennlinien auseinanderzudriften. Sie spaltet sich in Arme und Reiche, Gebildete und weniger Gebildete, Zukunftsoptimisten und Besorgte. Einige versuchen damit – aus ihrer Warte durchaus erfolgreich – ihr eigenes Süppchen zu kochen. Dazu zählen rechte, populistische Kräfte ebenso wie diejenigen, die Falschnachrichten erfinden, um über hohe Klickzahlen in den sozialen Netzwerken ihre Werbeeinnahmen zu steigern.
Wir leben in einer Zeit, in der andere Meinungen gerne vorschnell oder gar beleidigend abqualifiziert werden. Argumente werden von Teilen der Gesellschaft in Auseinandersetzungen zunehmend vermieden, Fakten werden ignoriert und von „gefühlten Wahrheiten“ verdrängt. Zeitungen und Fernsehsender werden als „Lügenpresse“ verleumdet, weil sie nicht die eigene Wahrnehmung wiedergeben. Politiker werden kurzerhand zu ahnungslosen „Volksverrätern“ erklärt, wenn man mit ihrer Haltung nicht übereinstimmt.
Schnell ist die Behauptung ausgesprochen, man dürfe in Deutschland nicht mehr seine Meinung sagen. Aber wer von denen, die das behaupten, wurde schon einmal für eine Meinungsäußerung belangt? Was manche mit einem Verbot der eigenen Meinung verwechseln ist der Widerspruch. Damit muss man in einer demokratisch verfassten Gesellschaft leben können. Hier gehört der Austausch von Position und Gegenposition zum Wesenskern der Willensbildung. Zustimmung zum eigenen Standpunkt lässt sich nicht erzwingen – auch das ist Ausdruck unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ich bin sehr froh in einem Land zu leben, in dem jede und jeder die eigene Meinung vertreten und auch in Leserbriefen und sozialen Netzwerken zum Ausdruck bringen kann. Vorher jedoch nachzudenken – auch darüber, ob jemand beleidigt oder eine Personengruppe pauschal verunglimpft wird – kann nicht zu viel verlangt sein. Respekt erwartet schließlich jede/r – völlig zu Recht – auch sich selbst gegenüber.
Ein erhebliches Problem für die demokratische Willensbildung ist der Trend, dass falsche Behauptungen in die Welt gesetzt und über die sozialen Medien sehr schnell massenhaft weiterverbreitet werden. Da werden wissenschaftlich belegte Tatsachen wie der Klimawandel schlichtweg geleugnet, obwohl sich beschleunigende Klimaveränderungen und der menschliche Einfluss darauf messbar sind. Da werden Vergewaltigungen erfunden („Fall Lisa“), um ganze Bevölkerungsgruppen zu diskreditieren. Politikern werden Zitate zugeschrieben, die diese nie geäußert haben. Fürs Internet von heute gilt – in abgewandelter Form – was früher beim Aufkommen der privaten Fernsehsender gesagt wurde: Die neuen Medien machen die Klugen, die Informationen differenziert aufnehmen und kritisch bewerten können, klüger und bestärkt diejenigen in eindimensionalen Denkweisen, die bereits mit Vorurteilen und Ressentiments unterwegs sind und sich ihre eigene, kleine Welt aufgebaut haben, die sie sich von niemandem und schon gar nicht von störenden Fakten zunichtemachen lassen wollen. Da hilft, dass Plattformen wie Facebook vorsortieren, was dem jeweiligen Nutzer ins eigene Weltbild passt. Medienkompetenz zu vermitteln ist angesichts dieser Entwicklung und der damit verbundenen Risiken für unser gesellschaftliches Zusammenleben eine der wesentlichen Aufgaben unseres Bildungssystems.
Was mich schon in meiner Zeit als Kommunalpolitiker mächtig gestört hat ist, wenn einzelne Personen oder auch Gruppen für sich beanspruchen, für „die Bürger“ oder „das Volk“ zu sprechen. Dabei wird – bewusst oder unbewusst – die Vielfalt unserer Gesellschaft ignoriert. Es gibt eine weitaus größere Bandbreite an Erfahrungen, Interessen, Meinungen und Einstellungen als viele glauben. Wer in der Politik aktiv ist, staunt immer wieder darüber, mit welch unterschiedlichen und häufig gegenläufigen Erwartungen Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsträger/innen herantreten. Manchmal wünsche ich mir, mehr Menschen würden diesen Pluralismus unmittelbar (er)leben. Denn nur im aktiven Umgang mit diesem Pluralismus wird die eigene Meinung auf den Prüfstand gestellt und die Schlagkraft eigener Argumente dem harten Praxistest unterzogen. Bequem ist das nicht – im Gegenteil: Es zeigt sich, dass Demokratie zu leben anstrengend ist. Es ist diese Anstrengung jedoch allemal wert, denn etwas Besseres als Demokratie wurde bislang nicht erfunden!
Auch der Dialog mit verunsicherten Bürgerinnen und Bürgern gehört zum politischen Alltag und ich möchte diesen gerne weiter ausbauen. Doch so einfach, wie manche meinen, ist das nicht. Bürgersprechstunden fallen immer wieder mangels Nachfrage aus und auch das „Rausgehen“ und sich als Gesprächspartner anbieten ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Das zeigte zum Beispiel mein Versuch, am Rande einer Pegida-Demonstration als Abgeordneter ins Gespräch zu kommen. Die meisten schüttelten den Kopf oder erwiderten „kein Kommentar“. Auch tiefes, verschwörungstheoretisches Misstrauen bekam ich zu hören – „Sag nichts, der Mann ist sicher verkabelt“. Man bleibt gerne unter sich.
Sich ins nationale Schneckenhaus zurückzuziehen mag verlockend sein. Probleme in einer komplexer werdenden und manchmal auch überfordernden Welt lassen sich so aber nicht lösen. Weder die Ursachen für kriegs- oder ernährungsbedingte Fluchtbewegungen lassen sich so beseitigen noch lässt sich die Steuerflucht aus unserem Land heraus rein national wirksam bekämpfen. Die Lösung kann nur in einem – momentan leider immer weniger erkennbaren – starken und von gemeinsamen Werten getragenen Europa gesucht werden.
In den kommenden Monaten des herannahenden Bundestagswahlkampfes ist mit härter werdenden Auseinandersetzungen zu rechnen. Von manchen Gruppen und Parteien werden die Grundlagen unserer freiheitlichen und weltoffenen Republik in Frage gestellt. Werte wie die Achtung der Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit sind in unserer Verfassung festgeschrieben. Gewährleistet werden unsere Rechte aber nur dadurch, dass sie von allen hier lebenden Menschen aktiv gelebt und couragiert gegen ihre Feinde verteidigt werden. Hier sind wir alle in der Pflicht – in den Parlamenten, auf den Straßen, am Arbeitsplatz, im Verein und an den Wahlurnen. Die Achtung demokratischer Werte ist die Voraussetzung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, für Frieden, für wirtschaftlichen Erfolg und damit auch für den außerordentlich großen Wohlstand in Deutschland und in weiten Teilen Europas.
Mit Sorge sehe ich den Trend zum politischen Desinteresse. Genauer gesagt: Immer mehr Menschen informieren sich selektiv und überwiegend nur noch bei besonders einschneidenden Ereignissen wie Terroranschlägen oder zu besonderen Anlässen wie beispielsweise vor Wahlen. Und das in hochpolitischen Zeiten. Zugegeben: Der Politik kontinuierlich zu folgen und sich eine eigene Meinung zu bilden wird angesichts des rasanten Tempos von Veränderungen und häufig widersprüchlichen Informationen, die auf uns alle einprasseln, immer anstrengender. Eine demokratisch verfasste Gesellschaft braucht aber eine kontinuierliche, öffentliche und kritische Begleitung der politischen Akteure. Und ein gutes Gemeinwesen braucht das Engagement der Menschen, auch im Ehrenamt. Damit sich wieder mehr Menschen für Politik und politisches Engagement begeistern, dürfen sie sich nicht abgehängt fühlen. Die Politik muss auf die Probleme der Menschen eingehen und in möglichst verständlicher Weise kommunizieren. Darüber hinaus braucht es Strukturen, die eine unkomplizierte Beteiligung der Menschen ermöglichen. Der von vielen gefühlte Graben zwischen „normalen Bürgern“ und politischen – aber auch wirtschaftlichen – Entscheidungsträgern muss geschlossen werden. Unsere Demokratie verträgt nicht auf Dauer „die Politiker hier“ und „die Bürger dort“. Schon Aristoteles verband mit dem Begriff des „Bürgers“ dessen politische Teilhabe. Die Einen bringen sich in Parteien ein, andere engagieren sich in Bürgerinitiativen und wieder andere beschränken sich auf die Beteiligung an Wahlen und besuchen ab und an politische Veranstaltungen oder nehmen andere Formen der politischen Information und Diskussion wahr. All das stützt unsere Demokratie.
Ohne eine solche Teilhabe, ohne ein stetiges Interesse am politischen Leben werden kurzfristiger Aktionismus und Symbolhandeln der Politik weiter zunehmen, anstatt dass alle gemeinsam und ausdauernd an den großen Herausforderungen der heutigen Zeit arbeiten.
Das ist es, was ich mir für das neue Jahr wünsche: Aktive Menschen, die sich einmischen und unsere Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, hochhalten. Menschen, die Medien und der Politik gegenüber kritisch, aber nicht misstrauisch oder gar grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. Und ich wünsche mir politische Amts und Mandatsträger/innen, die verstärkt den Dialog suchen und offene, neugierige und aufgeschlossene Menschen vorfinden. Ich freue mich auf viele Begegnungen und für unsere Demokratie elementare, zivilisierte und von gegenseitiger Achtung geprägte Gespräche und Debatten – auch und insbesondere mit Menschen, die andere Meinungen vertreten als ich. In diesem Sinne: Auf ein für uns alle gutes Jahr 2017!