Gedanken zu unserer Demokratie in einer komplexer und hektischer werdenden Welt

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23.12.2016Ballot box with person casting vote on blank voting slip, grungy background

 

Rauer Ton und Lügen sind die Feinde unserer Demokratie

 Meh­re­re sich über­schnei­den­de Ent­wick­lun­gen in Deutsch­land und der Welt stel­len eine Bewäh­rungs­pro­be für unse­re Demo­kra­tie und unse­re Grund­rech­te dar. Nicht zuletzt ist es die Glo­ba­li­sie­rung, die zu einer wach­sen­den Unüber­sicht­lich­keit von Abhän­gig­kei­ten und Ein­flüs­sen auf die Poli­tik und das (Er)Leben der Men­schen führt. Vie­les ver­än­dert sich rasend schnell: Die Medi­en, Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­we­ge, die Arbeits­welt, welt­wei­te Migra­ti­ons­be­we­gun­gen und eini­ges mehr. Vie­les von dem, was frü­her ver­hält­nis­mä­ßig ein­fach und über­sicht­lich erschien, wird zuneh­mend kom­ple­xer und löst bei vie­len Men­schen das Gefühl aus, nicht mehr mit­zu­kom­men. Die Gesell­schaft läuft Gefahr, an ver­schie­de­nen Trenn­li­ni­en aus­ein­an­der­zu­drif­ten. Sie spal­tet sich in Arme und Rei­che, Gebil­de­te und weni­ger Gebil­de­te, Zukunfts­op­ti­mis­ten und Besorg­te. Eini­ge ver­su­chen damit – aus ihrer War­te durch­aus erfolg­reich – ihr eige­nes Süpp­chen zu kochen. Dazu zäh­len rech­te, popu­lis­ti­sche Kräf­te eben­so wie die­je­ni­gen, die Fal­sch­nach­rich­ten erfin­den, um über hohe Klick­zah­len in den sozia­len Netz­wer­ken ihre Wer­be­ein­nah­men zu stei­gern.

Wir leben in einer Zeit, in der ande­re Mei­nun­gen ger­ne vor­schnell oder gar belei­di­gend abqua­li­fi­ziert wer­den. Argu­men­te wer­den von Tei­len der Gesell­schaft in Aus­ein­an­der­set­zun­gen zuneh­mend ver­mie­den, Fak­ten wer­den igno­riert und von „gefühl­ten Wahr­hei­ten“ ver­drängt. Zei­tun­gen und Fern­seh­sen­der wer­den als „Lügen­pres­se“ ver­leum­det, weil sie nicht die eige­ne Wahr­neh­mung wie­der­ge­ben. Poli­ti­ker wer­den kur­zer­hand zu ahnungs­lo­sen „Volks­ver­rä­tern“ erklärt, wenn man mit ihrer Hal­tung nicht über­ein­stimmt.

Schnell ist die Behaup­tung aus­ge­spro­chen, man dür­fe in Deutsch­land nicht mehr sei­ne Mei­nung sagen. Aber wer von denen, die das behaup­ten, wur­de schon ein­mal für eine Mei­nungs­äu­ße­rung belangt? Was man­che mit einem Ver­bot der eige­nen Mei­nung ver­wech­seln ist der Wider­spruch. Damit muss man in einer demo­kra­tisch ver­fass­ten Gesell­schaft leben kön­nen. Hier gehört der Aus­tausch von Posi­ti­on und Gegen­po­si­ti­on zum Wesens­kern der Wil­lens­bil­dung. Zustim­mung zum eige­nen Stand­punkt lässt sich nicht erzwin­gen – auch das ist Aus­druck unse­rer frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung. Ich bin sehr froh in einem Land zu leben, in dem jede und jeder die eige­ne Mei­nung ver­tre­ten und auch in Leser­brie­fen und sozia­len Netz­wer­ken zum Aus­druck brin­gen kann. Vor­her jedoch nach­zu­den­ken – auch dar­über, ob jemand belei­digt oder eine Per­so­nen­grup­pe pau­schal ver­un­glimpft wird – kann nicht zu viel ver­langt sein. Respekt erwar­tet schließ­lich jede/r – völ­lig zu Recht – auch sich selbst gegen­über.

Ein erheb­li­ches Pro­blem für die demo­kra­ti­sche Wil­lens­bil­dung ist der Trend, dass fal­sche Behaup­tun­gen in die Welt gesetzt und über die sozia­len Medi­en sehr schnell mas­sen­haft wei­ter­ver­brei­tet wer­den. Da wer­den wis­sen­schaft­lich beleg­te Tat­sa­chen wie der Kli­ma­wan­del schlicht­weg geleug­net, obwohl sich beschleu­ni­gen­de Kli­ma­ver­än­de­run­gen und der mensch­li­che Ein­fluss dar­auf mess­bar sind. Da wer­den Ver­ge­wal­ti­gun­gen erfun­den („Fall Lisa“), um gan­ze Bevöl­ke­rungs­grup­pen zu dis­kre­di­tie­ren. Poli­ti­kern wer­den Zita­te zuge­schrie­ben, die die­se nie geäu­ßert haben. Fürs Inter­net von heu­te gilt – in abge­wan­del­ter Form – was frü­her beim Auf­kom­men der pri­va­ten Fern­seh­sen­der gesagt wur­de: Die neu­en Medi­en machen die Klu­gen, die Infor­ma­tio­nen dif­fe­ren­ziert auf­neh­men und kri­tisch bewer­ten kön­nen, klü­ger und bestärkt die­je­ni­gen in ein­di­men­sio­na­len Denk­wei­sen, die bereits mit Vor­ur­tei­len und Res­sen­ti­ments unter­wegs sind und sich ihre eige­ne, klei­ne Welt auf­ge­baut haben, die sie sich von nie­man­dem und schon gar nicht von stö­ren­den Fak­ten zunich­te­ma­chen las­sen wol­len. Da hilft, dass Platt­for­men wie Face­book vor­sor­tie­ren, was dem jewei­li­gen Nut­zer ins eige­ne Welt­bild passt. Medi­en­kom­pe­tenz zu ver­mit­teln ist ange­sichts die­ser Ent­wick­lung und der damit ver­bun­de­nen Risi­ken für unser gesell­schaft­li­ches Zusam­men­le­ben eine der wesent­li­chen Auf­ga­ben unse­res Bil­dungs­sys­tems.

Was mich schon in mei­ner Zeit als Kom­mu­nal­po­li­ti­ker mäch­tig gestört hat ist, wenn ein­zel­ne Per­so­nen oder auch Grup­pen für sich bean­spru­chen, für „die Bür­ger“ oder „das Volk“ zu spre­chen. Dabei wird – bewusst oder unbe­wusst – die Viel­falt unse­rer Gesell­schaft igno­riert. Es gibt eine weit­aus grö­ße­re Band­brei­te an Erfah­run­gen, Inter­es­sen, Mei­nun­gen und Ein­stel­lun­gen als vie­le glau­ben. Wer in der Poli­tik aktiv ist, staunt immer wie­der dar­über, mit welch unter­schied­li­chen und häu­fig gegen­läu­fi­gen Erwar­tun­gen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an Entscheidungsträger/innen her­an­tre­ten. Manch­mal wün­sche ich mir, mehr Men­schen wür­den die­sen Plu­ra­lis­mus unmit­tel­bar (er)leben. Denn nur im akti­ven Umgang mit die­sem Plu­ra­lis­mus wird die eige­ne Mei­nung auf den Prüf­stand gestellt und die Schlag­kraft eige­ner Argu­men­te dem har­ten Pra­xis­test unter­zo­gen. Bequem ist das nicht – im Gegen­teil: Es zeigt sich, dass Demo­kra­tie zu leben anstren­gend ist. Es ist die­se Anstren­gung jedoch alle­mal wert, denn etwas Bes­se­res als Demo­kra­tie wur­de bis­lang nicht erfun­den!

Auch der Dia­log mit ver­un­si­cher­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­gern gehört zum poli­ti­schen All­tag und ich möch­te die­sen ger­ne wei­ter aus­bau­en. Doch so ein­fach, wie man­che mei­nen, ist das nicht. Bür­ger­sprech­stun­den fal­len immer wie­der man­gels Nach­fra­ge aus und auch das „Raus­ge­hen“ und sich als Gesprächs­part­ner anbie­ten ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Das zeig­te zum Bei­spiel mein Ver­such, am Ran­de einer Pegi­da-Demons­tra­ti­on als Abge­ord­ne­ter ins Gespräch zu kom­men. Die meis­ten schüt­tel­ten den Kopf oder erwi­der­ten „kein Kom­men­tar“. Auch tie­fes, ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sches Miss­trau­en bekam ich zu hören – „Sag nichts, der Mann ist sicher ver­ka­belt“. Man bleibt ger­ne unter sich.

Sich ins natio­na­le Schne­cken­haus zurück­zu­zie­hen mag ver­lo­ckend sein. Pro­ble­me in einer kom­ple­xer wer­den­den und manch­mal auch über­for­dern­den Welt las­sen sich so aber nicht lösen. Weder die Ursa­chen für kriegs- oder ernäh­rungs­be­ding­te Flucht­be­we­gun­gen las­sen sich so besei­ti­gen noch lässt sich die Steu­er­flucht aus unse­rem Land her­aus rein natio­nal wirk­sam bekämp­fen. Die Lösung kann nur in einem – momen­tan lei­der immer weni­ger erkenn­ba­ren – star­ken und von gemein­sa­men Wer­ten getra­ge­nen Euro­pa gesucht wer­den.

In den kom­men­den Mona­ten des her­an­na­hen­den Bun­des­tags­wahl­kamp­fes ist mit här­ter wer­den­den Aus­ein­an­der­set­zun­gen zu rech­nen. Von man­chen Grup­pen und Par­tei­en wer­den die Grund­la­gen unse­rer frei­heit­li­chen und welt­of­fe­nen Repu­blik in Fra­ge gestellt. Wer­te wie die Ach­tung der Men­schen­wür­de, Mei­nungs­frei­heit, Pres­se­frei­heit, Reli­gi­ons­frei­heit und Rechts­staat­lich­keit sind in unse­rer Ver­fas­sung fest­ge­schrie­ben. Gewähr­leis­tet wer­den unse­re Rech­te aber nur dadurch, dass sie von allen hier leben­den Men­schen aktiv gelebt und cou­ra­giert gegen ihre Fein­de ver­tei­digt wer­den. Hier sind wir alle in der Pflicht – in den Par­la­men­ten, auf den Stra­ßen, am Arbeits­platz, im Ver­ein und an den Wahl­ur­nen. Die Ach­tung demo­kra­ti­scher Wer­te ist die Vor­aus­set­zung für den Zusam­men­halt unse­rer Gesell­schaft, für Frie­den, für wirt­schaft­li­chen Erfolg und damit auch für den außer­or­dent­lich gro­ßen Wohl­stand in Deutsch­land und in wei­ten Tei­len Euro­pas.

Mit Sor­ge sehe ich den Trend zum poli­ti­schen Des­in­ter­es­se. Genau­er gesagt: Immer mehr Men­schen infor­mie­ren sich selek­tiv und über­wie­gend nur noch bei beson­ders ein­schnei­den­den Ereig­nis­sen wie Ter­ror­an­schlä­gen oder zu beson­de­ren Anläs­sen wie bei­spiels­wei­se vor Wah­len. Und das in hoch­po­li­ti­schen Zei­ten. Zuge­ge­ben: Der Poli­tik kon­ti­nu­ier­lich zu fol­gen und sich eine eige­ne Mei­nung zu bil­den wird ange­sichts des rasan­ten Tem­pos von Ver­än­de­run­gen und häu­fig wider­sprüch­li­chen Infor­ma­tio­nen, die auf uns alle ein­pras­seln, immer anstren­gen­der. Eine demo­kra­tisch ver­fass­te Gesell­schaft braucht aber eine kon­ti­nu­ier­li­che, öffent­li­che und kri­ti­sche Beglei­tung der poli­ti­schen Akteu­re. Und ein gutes Gemein­we­sen braucht das Enga­ge­ment der Men­schen, auch im Ehren­amt. Damit sich wie­der mehr Men­schen für Poli­tik und poli­ti­sches Enga­ge­ment begeis­tern, dür­fen sie sich nicht abge­hängt füh­len. Die Poli­tik muss auf die Pro­ble­me der Men­schen ein­ge­hen und in mög­lichst ver­ständ­li­cher Wei­se kom­mu­ni­zie­ren. Dar­über hin­aus braucht es Struk­tu­ren, die eine unkom­pli­zier­te Betei­li­gung der Men­schen ermög­li­chen. Der von vie­len gefühl­te Gra­ben zwi­schen „nor­ma­len Bür­gern“ und poli­ti­schen – aber auch wirt­schaft­li­chen – Ent­schei­dungs­trä­gern muss geschlos­sen wer­den. Unse­re Demo­kra­tie ver­trägt nicht auf Dau­er „die Poli­ti­ker hier“ und „die Bür­ger dort“. Schon Aris­to­te­les ver­band mit dem Begriff des „Bür­gers“ des­sen poli­ti­sche Teil­ha­be. Die Einen brin­gen sich in Par­tei­en ein, ande­re enga­gie­ren sich in Bür­ger­initia­ti­ven und wie­der ande­re beschrän­ken sich auf die Betei­li­gung an Wah­len und besu­chen ab und an poli­ti­sche Ver­an­stal­tun­gen oder neh­men ande­re For­men der poli­ti­schen Infor­ma­ti­on und Dis­kus­si­on wahr. All das stützt unse­re Demo­kra­tie.

Ohne eine sol­che Teil­ha­be, ohne ein ste­ti­ges Inter­es­se am poli­ti­schen Leben wer­den kurz­fris­ti­ger Aktio­nis­mus und Sym­bol­han­deln der Poli­tik wei­ter zuneh­men, anstatt dass alle gemein­sam und aus­dau­ernd an den gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen der heu­ti­gen Zeit arbei­ten.

Das ist es, was ich mir für das neue Jahr wün­sche: Akti­ve Men­schen, die sich ein­mi­schen und unse­re Wer­te, die unse­re Gesell­schaft zusam­men­hal­ten, hoch­hal­ten. Men­schen, die Medi­en und der Poli­tik gegen­über kri­tisch, aber nicht miss­trau­isch oder gar grund­sätz­lich ableh­nend gegen­über­ste­hen. Und ich wün­sche mir poli­ti­sche Amts und Mandatsträger/innen, die ver­stärkt den Dia­log suchen und offe­ne, neu­gie­ri­ge und auf­ge­schlos­se­ne Men­schen vor­fin­den. Ich freue mich auf vie­le Begeg­nun­gen und für unse­re Demo­kra­tie ele­men­ta­re, zivi­li­sier­te und von gegen­sei­ti­ger Ach­tung gepräg­te Gesprä­che und Debat­ten – auch und ins­be­son­de­re mit Men­schen, die ande­re Mei­nun­gen ver­tre­ten als ich. In die­sem Sin­ne: Auf ein für uns alle gutes Jahr 2017!