Grenzüberschreitender Bahnverkehr in der EU

23.11.2022

Stellungnahme zur Kurzstudie: Stand der technischen Harmonisierung der Eisenbahnsysteme in der Europäischen Union

Der Ver­band “Bahn für Alle” hat, geför­dert durch das Umwelt­bun­des­amt, einen Zwi­schen­stand für eine Kurz­stu­die zum Bahn­ver­kehr in der EU vor­ge­legt. Mein Fach­bü­ro hat sich die 10 Sei­ten ange­schaut und nach­fol­gen­de Stel­lung­nah­me dazu ver­fasst.

Allgemeines

Die Stu­die umfasst inhalt­lich 10 Sei­ten. Die Quel­len sind zumin­dest unzu­rei­chend und unvoll­stän­dig, Ver­wei­se auf sich selbst sind kein Quel­len. Die Spra­che ist nicht wis­sen­schaft­lich gehal­ten (z.B. S. 3 „Mega­pro­jekt“).

Es ist unklar, inwie­weit Inhalt und Form eine För­de­rung durch das UBA recht­fer­ti­gen. Die­sem gehen wir nach.

Es erge­ben sich zudem Unge­nau­ig­kei­ten in der Betrach­tung der Län­der. So wird die Schweiz betrach­tet, Nor­we­gen und Groß­bri­tan­ni­en jedoch nicht. Dies müss­te zumin­dest zu Beginn der Stu­die begrün­det wer­den.

Spurweite

Es stellt sich die Fra­ge, wie sinn­voll es ist, die Län­der nach ihrer Kom­pa­ti­bi­li­tät in Bezug auf die Spur­wei­te zu bewer­ten. Wie in dem Bericht selbst fest­ge­hal­ten wird, stel­len die Spur­wei­ten „nur noch ein gerin­ges Hin­der­nis“ dar. Somit müss­te an die­ser Stel­le eine Bewer­tung die­ses Kri­te­ri­ums ent­fal­len. Daher macht es auch kei­nen Sinn, in der Bewer­tung (vgl. S. 14) die­ses Kri­te­ri­um gleich zu gewich­ten wie ande­re auf­ge­führ­te Kri­te­ri­en.

Eine flä­chen­de­cken­de Umspu­rung ist unter volks­wirt­schaft­li­chen Gesichts­punk­ten auf­grund der hohen Inves­ti­ti­ons­vo­lu­men abseh­bar nicht sinn­voll.

Im Übri­gen sei dar­auf hin­ge­wie­sen, dass es auch hier tech­ni­sche Lösun­gen gibt, Fahr­zeu­ge (zumin­dest im Per­so­nen­ver­kehr) ver­gleichs­wei­se zügig umzu­spu­ren. Dies ist zwar wei­ter­hin ein Hin­der­nis im Betriebs­ab­lauf, tech­nisch jedoch mach­bar.

Elektrifizierung

„Im Eisen­bahn­fern­ver­kehr hat sich in Euro­pa eine Bahn­strom­ver­sor­gung mit Wech­sel­strom mit einer Span­nung von 25 kV und einer Fre­quenz von 50 Hz durch­ge­setzt.“

Es ist nicht ersicht­lich, wie der Autor zu die­ser The­se kommt. Bei der Betrach­tung der Euro­pa­kar­te wird deut­lich, wie inho­mo­gen die Strom­sys­te­me sind. Es gibt in Euro­pa kein stan­dar­di­sier­tes Bahn­strom­sys­tem. Ein Ver­gleich der Stre­cken­län­gen der jewei­li­gen Län­der ergibt, dass sich auch hier­aus kein „domi­nie­ren­des“ Bahn­strom­sys­tem ablei­ten lässt. Dazu kommt, dass eini­ge der auf­ge­führ­ten Län­der kein ein­heit­li­ches Strom­sys­tem besit­zen und ein Wech­sel auf 25kV auch dort eher lang­sam geschieht.

Abbil­dung 1 – Bahn­strom­sys­te­me in Euro­pa (Quel­le: https://www.bahnstatistik.de/Stromsysteme.htm)

Die Aus­sa­ge, dass bei 50Hz kein eige­nes Bahn­strom­sys­tem betrie­ben wer­den müss­te und dies vor­teil­haft sei, ist in die­ser Pau­scha­li­tät falsch. Der Autor weist hier feh­len­de Sach­kennt­nis über die Vor- und Nach­tei­le von sepa­ra­ten Bahn­strom­net­zen nach. Bei­spiels­wei­se ist der Bahn­strom­preis in Län­dern mit eige­nem Bahn­strom­sys­tem güns­ti­ger als bei einer Ein­spei­sung aus dem Lan­des­netz (z.B. auf­grund einer fle­xi­ble­ren Ener­gie­be­schaf­fung). Dazu kom­men Her­aus­for­de­run­gen bei Ein­spei­sung aus dem Lan­des­netz wie Pha­sen­trenn­stel­len, um Schief­las­ten im Lan­des­strom­netz zu ver­mei­den. Eine Ein­spei­sung aus dem Lan­des­netz ist hin­ge­gen tech­nisch z.T. ein­fa­cher (z.B. in der Aus­stat­tung der Unter­wer­ke) als ein eige­nes Bahn­strom­netz, sofern Trenn­stel­len akzep­tiert wer­den. Soll­ten Trenn­stel­len ver­mie­den wer­den, ist dies durch auf­wän­di­ge­re Tech­nik in den Unter­wer­ken mög­lich, dies wie­der­um wür­de zu höhe­ren Inves­ti­ti­ons­kos­ten bei der Umrüs­tung füh­ren und damit wie­der­um die Wirt­schaft­lich­keit redu­zie­ren.

Des Wei­te­ren sei ange­merkt, dass nicht berück­sich­tigt wur­de, ob die Eisen­bahn­in­fra­struk­tur über­haupt elek­tri­fi­ziert ist. Beim „Spit­zen­rei­ter“ Däne­mark sind dies 27%. Ein wich­ti­ger Schritt für zukunfts­fä­hi­ge inter­na­tio­na­le Rei­se­ver­bin­dun­gen sind daher vor­ran­gig Elek­tri­fi­zie­run­gen.

Der Autor des Tex­tes nennt in ande­ren Kapi­teln inter­na­tio­na­le Stan­dards (z.B. UIC, S. 11) als Refe­renz zu Bewer­tung. Dies soll­te daher auch ein­heit­lich vor­ge­nom­men wer­den. Für einen Ver­gleich der euro­päi­schen Bahn­sys­te­me und einer anschlie­ßen­den Bewer­tung kann daher hier die TSI Ener­gy betrach­tet wer­den. In Kapi­tel 2.3.1 wird emp­foh­len, fol­gen­de Span­nungs­sys­te­me zu ver­wen­den:

  • 25 kV 50 Hz Wech­sel­strom
  • 15 kV 16,7 Hz Wech­sel­strom
  • 3 kV Gleich­strom (nicht > 250 km/h)
  • 1,5 kV Gleich­strom (nicht > 250 km/h)

Zudem sei auf fol­gen­de Aus­sa­ge in dem glei­chen Kapi­tel ver­wie­sen: „Auf­grund der brei­ten Palet­te ver­füg­ba­rer Bahn­strom­ver­sor­gungs­sys­te­me sowie der Tat­sa­che, dass Fahr­zeu­ge für den Betrieb in mehr als einem die­ser Sys­te­me den gegen­wär­ti­gen Stand der Tech­nik dar­stel­len, ist die Migra­ti­on auf ein Sys­tem wirt­schaft­lich nicht trag­bar“. Der Autor des Tex­tes nimmt hier also einen Ver­gleich und eine damit sug­ge­rier­te drin­gen­de Not­wen­dig­keit einer Har­mo­ni­sie­rung vor, der sich auf­grund der damit ver­bun­de­nen Inves­ti­ti­ons­vo­lu­men als nicht prio­ri­tär her­aus­stellt.

Tech­nisch betrach­tet sind zudem weni­ger die Wech­sel­strom­sys­te­me pro­ble­ma­tisch, son­dern die Gleich­strom­sys­te­me. Auf­grund der nied­ri­gen Span­nun­gen erge­ben sich hohe Strö­me (). Die­se sor­gen zum einen für höhe­re Ver­lus­te, da die­ser von der Strom­stär­ke  abhängt. Dies und der höhe­re Span­nungs­ab­fall auf­grund der hohen Strom­stär­ke ver­bun­den mit dem höhe­ren Wider­stand füh­ren zur Not­wen­dig­keit einer höhe­ren Dich­te an Unter­wer­ken an der Stre­cke im Ver­gleich zu Wech­sel­strom­sys­te­me mit höhe­rer Span­nung und damit zu höhe­ren Kos­ten. Wenn eine Har­mo­ni­sie­rung tech­ni­scher Sys­te­me erstre­bens­wert wäre, dann ins­be­son­de­re im Bereich der Auf­lö­sung der Gleich­strom­sys­te­me, wobei auch dies mit hohen Inves­ti­ti­ons­kos­ten ver­bun­den ist. Eben­falls nicht zu unter­schät­zen ist der Per­so­nal­auf­wand sowie die Kapa­zi­tä­ten in der Umset­zung der Maß­nah­men. Ins­ge­samt erschei­nen fahr­zeug­sei­ti­ge Lösun­gen auch lang­fris­tig geeig­ne­ter.

Zwei Wech­sel­strom­sys­te­me unter­schied­li­cher Fre­quenz und Span­nung sind fahr­zeug­sei­tig ver­gleichs­wei­se gut beherrsch­bar. Die hohen Aus­fäl­le und Stö­run­gen der ICE nach Brüs­sel zei­gen hin­ge­gen auf, dass ein Wech­sel zwi­schen Gleich­strom- und Wech­sel­strom­sys­te­me eher pro­ble­ma­tisch ist.

„In den Staa­ten, wo Mehr­sys­tem­fahr­zeu­ge ein­ge­setzt wer­den sol­len, müs­sen sie jeweils auf wen­di­ge natio­na­le Zulas­sungs­ver­fah­ren durch­lau­fen.“

Die Zulas­sung von Fahr­zeu­gen in meh­re­ren Län­dern ist unab­hän­gig vom Strom­sys­tem (bzw. meh­re­ren Strom­sys­te­men) aktu­ell noch not­wen­dig. Dies ist ein rele­van­tes Pro­blem für inter­na­tio­na­le Zug­ver­bin­dun­gen, hängt jedoch nicht vom Strom­sys­tem ab und ist daher für die­sen Bereich kein vali­des Argu­ment.

Zum letz­ten Absatz auf S. 7 in Bezug auf „fest mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Trieb­fahr­zeug-Wagen-Kom­bi­na­tio­nen“ tätigt der Autor des Tex­tes die Aus­sa­ge, dass die­se nicht für euro­pa­wei­te Ver­keh­re geeig­net sei­en. Dem Autor scheint nicht bekannt zu sein, dass es bereits heu­te eini­ge Trieb­wa­gen­zü­ge gibt, die bei­spiels­wei­se alle vier Strom­sys­te­me beherr­schen. Es sei als Bei­spiel der ETR 1000 (ita­lie­ni­scher Hoch­ge­schwin­dig­keits­zug) genannt, der alle vier in der TSI genann­ten Strom­sys­te­me beherrscht.

Sicherungstechnik

„Die Hoff­nun­gen, Stre­cken mit Hil­fe digi­ta­ler Signal­tech­nik stär­ker aus­las­ten zu kön­nen, erfül­len sich im Real­be­trieb nur begrenzt.“

Die­se Aus­sa­ge ist eine viel dis­ku­tier­te Fra­ge. Die Ände­rung der Leis­tungs­fä­hig­keit hängt bei­spiels­wei­se auch von den Eigen­schaf­ten des Vor­gän­ger­sys­tems ab. Eine pau­scha­le Aus­sa­ge, dass sich die Stre­cken­leis­tungs­fä­hig­keit nicht erhö­hen wür­de, ist daher falsch. So ergibt sich bei­spiels­wei­se aus der Anpas­sung der Durch­rutsch­we­ge eine Erhö­hung der Kapa­zi­tät in Kno­ten auf­grund des Weg­falls man­cher Fahr­stra­ßen­aus­schlüs­se. Auch sind mit ETCS L2 Block­ver­dich­tun­gen etwas güns­ti­ger als bei vie­len bestehen­den Sys­te­me, wodurch die­se ver­mehrt ver­wen­det wer­den kön­nen.

Zu den Aus­sa­gen des Fort­schritts von ETCS in ein­zel­nen Län­dern wer­den kei­ner­lei Quel­len ange­ge­ben. Die­se Anga­ben sind daher nicht über­prüf­bar.

Pro­ble­ma­tisch sind in der Tat die ver­schie­de­nen Base­lines (im Text „Spiel­ar­ten“ genannt) sowie Zulas­sung von Fahr­zeu­gen auf die jewei­li­gen Base­lines. Dar­über hin­aus ist der Roll­out in Deutsch­land aktu­ell auf­grund feh­len­der Finan­zie­run­gen (ins­be­son­de­re Ver­pflich­tungs­er­mäch­ti­gun­gen) sowie per­so­nel­len Eng­päs­sen gehemmt. Dies wird in dem Text jedoch nicht erwähnt, obwohl dies durch­aus ein kri­tik­wür­di­ger Punkt ist (dies wäre durch­aus recher­chier­bar gewe­sen, schließ­lich wird in dem Abschnitt eine Klei­ne Anfra­ge der Lin­ken erwähnt. In der zeit­glei­chen Klei­nen Anfra­ge der Grü­nen (Bun­des­tags­druck­sa­che 19/31816) wären die­se Punk­te offen­sicht­lich gewor­den.)

Bahnsteighöhe

„Zur Ver­ein­heit­li­chung defi­niert der inter­na­tio­na­le Eisen­bahn­ver­band (UIC) die soge­nann­te Nor­mal­bahn­steig­hö­he auf 55 cm“

Der Autor des Tex­tes nennt in die­sem Abschnitt zwar die UIC Nor­mal­bahn­steig­hö­he, nicht jedoch die Vor­ga­ben der TSI, die für den Infra­struk­tur­aus­bau in Euro­pa min­des­tens die glei­che Rele­vanz hat. Die­se sieht als Bahn­steig­hö­he 550 mm oder 760 mm vor. In Deutsch­land hat sich zumin­dest im Fern­ver­kehr 760 mm durch­ge­setzt. Dies steht durch­aus in Kon­kur­renz zu Bahn­steig­hö­hen in vie­len Nach­bar­län­dern.

Aller­dings ist gera­de im Kon­text der Bar­rie­re­frei­heit zu beach­ten, dass vie­le Akteur*innen in die­sem Bereich vor­ran­gig niveau­glei­che Ein­stie­ge anstre­ben. Die­se sind, ins­be­son­de­re im Fern­ver­kehr in Kom­bi­na­ti­on mit Trieb­wa­gen und daher unter­flur ver­bau­ter Antriebs­tech­nik (sowie wei­te­rer Kom­po­nen­ten), mit 550 mm Bahn­steig­hö­he nicht leich­ter zu errei­chen als mit 760 mm.

Für Deutsch­land wäre daher erst­mal wenig gewon­nen, wenn jetzt z.B. bei Neu­bau­ten oder Sanie­run­gen Bahn­stei­ge ein­fach auf 550 mm abge­senkt wer­den. Die­se wür­de bei­spiels­wei­se die Bar­rie­re­frei­heit im Fern­ver­kehr noch wei­ter erschwe­ren, allei­ne da der ICE L von Tal­go niveau­glei­che Ein­stie­ge auf 760 mm vor­sieht. Auch bei der aktu­ell star­ten­den Erar­bei­tung eines Kon­zep­tes für den ICE 5 sind niveau­glei­che Ein­stie­ge für 760 mm zumin­dest teil­wei­se vor­ge­se­hen. Fahr­zeu­ge aus ande­ren Län­dern (z.B. TGV Duplex) mit 550 mm Bahn­steig­hö­he ver­deut­li­chen, dass dort die Bar­rie­re­frei­heit auch im Fahr­zeug auf­grund vie­ler Stu­fen erschwert ist.

Dazu wer­den fahr­zeug­sei­ti­ge Lösun­gen nicht beach­tet. Hier gibt es bereits Ansät­ze, auch wenn die­se ins­be­son­de­re unter Berück­sich­ti­gung einer Bar­rie­re­frei­heit bei Ein- und Aus­stieg auf je einem 760 mm und 550 mm Bahn­steig teil­wei­se noch nicht aus­ge­reift sind. Der RABe 501 der SBB hat bei­spiels­wei­se Ein­stie­ge in 550 mm und 760mm Höhe und löst die­ses Pro­blem fahr­zeug­sei­tig. Dies dürf­te abseh­bar volks­wirt­schaft­lich güns­ti­ger sein als ein Umbau vie­ler Bahn­stei­ge in Deutsch­land.

Anzu­stre­ben wäre in Deutsch­land eine Har­mo­ni­sie­rung inner­halb der SPNV-Net­ze, sodass die­se nach einer Über­gangs­zeit (ggf. mit fahr­zeug­sei­ti­gen Lösun­gen) mög­lichst ein­heit­li­che Bahn­steig­hö­hen erhal­ten.

Das The­ma und eine euro­pa­wei­te Abwä­gung sind somit kaum auf einer vier­tel Sei­te vor­zu­neh­men. Dies wür­de eine ver­tief­te Betrach­tung erfor­dern.

Fehlende Kriterien

Abschlie­ßend sol­len hier eini­ge Kri­te­ri­en exem­pla­risch auf­ge­führt wer­den, die für den inter­na­tio­na­len Zug­ver­kehr eben­falls berück­sich­tigt hät­ten wer­den kön­nen:

  • Har­mo­ni­sie­rung von Betriebs­ver­fah­ren
  • Ver­ein­fach­te Zugang für Triebfahrzeugführer*innen in Bahn­net­ze ande­rer Län­der auf­recht­erhal­ten bzw. ermög­li­chen (zumin­dest Grenz­bahn­hö­fe)
  • Zulas­sung von Wagen und Fahr­zeu­gen (ins­be­son­de­re Per­so­nen­ver­kehr)