Stellungnahme zur Kurzstudie: Stand der technischen Harmonisierung der Eisenbahnsysteme in der Europäischen Union
Der Verband “Bahn für Alle” hat, gefördert durch das Umweltbundesamt, einen Zwischenstand für eine Kurzstudie zum Bahnverkehr in der EU vorgelegt. Mein Fachbüro hat sich die 10 Seiten angeschaut und nachfolgende Stellungnahme dazu verfasst.
Allgemeines
Die Studie umfasst inhaltlich 10 Seiten. Die Quellen sind zumindest unzureichend und unvollständig, Verweise auf sich selbst sind kein Quellen. Die Sprache ist nicht wissenschaftlich gehalten (z.B. S. 3 „Megaprojekt“).
Es ist unklar, inwieweit Inhalt und Form eine Förderung durch das UBA rechtfertigen. Diesem gehen wir nach.
Es ergeben sich zudem Ungenauigkeiten in der Betrachtung der Länder. So wird die Schweiz betrachtet, Norwegen und Großbritannien jedoch nicht. Dies müsste zumindest zu Beginn der Studie begründet werden.
Spurweite
Es stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, die Länder nach ihrer Kompatibilität in Bezug auf die Spurweite zu bewerten. Wie in dem Bericht selbst festgehalten wird, stellen die Spurweiten „nur noch ein geringes Hindernis“ dar. Somit müsste an dieser Stelle eine Bewertung dieses Kriteriums entfallen. Daher macht es auch keinen Sinn, in der Bewertung (vgl. S. 14) dieses Kriterium gleich zu gewichten wie andere aufgeführte Kriterien.
Eine flächendeckende Umspurung ist unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten aufgrund der hohen Investitionsvolumen absehbar nicht sinnvoll.
Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass es auch hier technische Lösungen gibt, Fahrzeuge (zumindest im Personenverkehr) vergleichsweise zügig umzuspuren. Dies ist zwar weiterhin ein Hindernis im Betriebsablauf, technisch jedoch machbar.
Elektrifizierung
„Im Eisenbahnfernverkehr hat sich in Europa eine Bahnstromversorgung mit Wechselstrom mit einer Spannung von 25 kV und einer Frequenz von 50 Hz durchgesetzt.“
Es ist nicht ersichtlich, wie der Autor zu dieser These kommt. Bei der Betrachtung der Europakarte wird deutlich, wie inhomogen die Stromsysteme sind. Es gibt in Europa kein standardisiertes Bahnstromsystem. Ein Vergleich der Streckenlängen der jeweiligen Länder ergibt, dass sich auch hieraus kein „dominierendes“ Bahnstromsystem ableiten lässt. Dazu kommt, dass einige der aufgeführten Länder kein einheitliches Stromsystem besitzen und ein Wechsel auf 25kV auch dort eher langsam geschieht.
Abbildung 1 – Bahnstromsysteme in Europa (Quelle: https://www.bahnstatistik.de/Stromsysteme.htm)
Die Aussage, dass bei 50Hz kein eigenes Bahnstromsystem betrieben werden müsste und dies vorteilhaft sei, ist in dieser Pauschalität falsch. Der Autor weist hier fehlende Sachkenntnis über die Vor- und Nachteile von separaten Bahnstromnetzen nach. Beispielsweise ist der Bahnstrompreis in Ländern mit eigenem Bahnstromsystem günstiger als bei einer Einspeisung aus dem Landesnetz (z.B. aufgrund einer flexibleren Energiebeschaffung). Dazu kommen Herausforderungen bei Einspeisung aus dem Landesnetz wie Phasentrennstellen, um Schieflasten im Landesstromnetz zu vermeiden. Eine Einspeisung aus dem Landesnetz ist hingegen technisch z.T. einfacher (z.B. in der Ausstattung der Unterwerke) als ein eigenes Bahnstromnetz, sofern Trennstellen akzeptiert werden. Sollten Trennstellen vermieden werden, ist dies durch aufwändigere Technik in den Unterwerken möglich, dies wiederum würde zu höheren Investitionskosten bei der Umrüstung führen und damit wiederum die Wirtschaftlichkeit reduzieren.
Des Weiteren sei angemerkt, dass nicht berücksichtigt wurde, ob die Eisenbahninfrastruktur überhaupt elektrifiziert ist. Beim „Spitzenreiter“ Dänemark sind dies 27%. Ein wichtiger Schritt für zukunftsfähige internationale Reiseverbindungen sind daher vorrangig Elektrifizierungen.
Der Autor des Textes nennt in anderen Kapiteln internationale Standards (z.B. UIC, S. 11) als Referenz zu Bewertung. Dies sollte daher auch einheitlich vorgenommen werden. Für einen Vergleich der europäischen Bahnsysteme und einer anschließenden Bewertung kann daher hier die TSI Energy betrachtet werden. In Kapitel 2.3.1 wird empfohlen, folgende Spannungssysteme zu verwenden:
- 25 kV 50 Hz Wechselstrom
- 15 kV 16,7 Hz Wechselstrom
- 3 kV Gleichstrom (nicht > 250 km/h)
- 1,5 kV Gleichstrom (nicht > 250 km/h)
Zudem sei auf folgende Aussage in dem gleichen Kapitel verwiesen: „Aufgrund der breiten Palette verfügbarer Bahnstromversorgungssysteme sowie der Tatsache, dass Fahrzeuge für den Betrieb in mehr als einem dieser Systeme den gegenwärtigen Stand der Technik darstellen, ist die Migration auf ein System wirtschaftlich nicht tragbar“. Der Autor des Textes nimmt hier also einen Vergleich und eine damit suggerierte dringende Notwendigkeit einer Harmonisierung vor, der sich aufgrund der damit verbundenen Investitionsvolumen als nicht prioritär herausstellt.
Technisch betrachtet sind zudem weniger die Wechselstromsysteme problematisch, sondern die Gleichstromsysteme. Aufgrund der niedrigen Spannungen ergeben sich hohe Ströme (). Diese sorgen zum einen für höhere Verluste, da dieser von der Stromstärke abhängt. Dies und der höhere Spannungsabfall aufgrund der hohen Stromstärke verbunden mit dem höheren Widerstand führen zur Notwendigkeit einer höheren Dichte an Unterwerken an der Strecke im Vergleich zu Wechselstromsysteme mit höherer Spannung und damit zu höheren Kosten. Wenn eine Harmonisierung technischer Systeme erstrebenswert wäre, dann insbesondere im Bereich der Auflösung der Gleichstromsysteme, wobei auch dies mit hohen Investitionskosten verbunden ist. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist der Personalaufwand sowie die Kapazitäten in der Umsetzung der Maßnahmen. Insgesamt erscheinen fahrzeugseitige Lösungen auch langfristig geeigneter.
Zwei Wechselstromsysteme unterschiedlicher Frequenz und Spannung sind fahrzeugseitig vergleichsweise gut beherrschbar. Die hohen Ausfälle und Störungen der ICE nach Brüssel zeigen hingegen auf, dass ein Wechsel zwischen Gleichstrom- und Wechselstromsysteme eher problematisch ist.
„In den Staaten, wo Mehrsystemfahrzeuge eingesetzt werden sollen, müssen sie jeweils auf wendige nationale Zulassungsverfahren durchlaufen.“
Die Zulassung von Fahrzeugen in mehreren Ländern ist unabhängig vom Stromsystem (bzw. mehreren Stromsystemen) aktuell noch notwendig. Dies ist ein relevantes Problem für internationale Zugverbindungen, hängt jedoch nicht vom Stromsystem ab und ist daher für diesen Bereich kein valides Argument.
Zum letzten Absatz auf S. 7 in Bezug auf „fest miteinander verbundenen Triebfahrzeug-Wagen-Kombinationen“ tätigt der Autor des Textes die Aussage, dass diese nicht für europaweite Verkehre geeignet seien. Dem Autor scheint nicht bekannt zu sein, dass es bereits heute einige Triebwagenzüge gibt, die beispielsweise alle vier Stromsysteme beherrschen. Es sei als Beispiel der ETR 1000 (italienischer Hochgeschwindigkeitszug) genannt, der alle vier in der TSI genannten Stromsysteme beherrscht.
Sicherungstechnik
„Die Hoffnungen, Strecken mit Hilfe digitaler Signaltechnik stärker auslasten zu können, erfüllen sich im Realbetrieb nur begrenzt.“
Diese Aussage ist eine viel diskutierte Frage. Die Änderung der Leistungsfähigkeit hängt beispielsweise auch von den Eigenschaften des Vorgängersystems ab. Eine pauschale Aussage, dass sich die Streckenleistungsfähigkeit nicht erhöhen würde, ist daher falsch. So ergibt sich beispielsweise aus der Anpassung der Durchrutschwege eine Erhöhung der Kapazität in Knoten aufgrund des Wegfalls mancher Fahrstraßenausschlüsse. Auch sind mit ETCS L2 Blockverdichtungen etwas günstiger als bei vielen bestehenden Systeme, wodurch diese vermehrt verwendet werden können.
Zu den Aussagen des Fortschritts von ETCS in einzelnen Ländern werden keinerlei Quellen angegeben. Diese Angaben sind daher nicht überprüfbar.
Problematisch sind in der Tat die verschiedenen Baselines (im Text „Spielarten“ genannt) sowie Zulassung von Fahrzeugen auf die jeweiligen Baselines. Darüber hinaus ist der Rollout in Deutschland aktuell aufgrund fehlender Finanzierungen (insbesondere Verpflichtungsermächtigungen) sowie personellen Engpässen gehemmt. Dies wird in dem Text jedoch nicht erwähnt, obwohl dies durchaus ein kritikwürdiger Punkt ist (dies wäre durchaus recherchierbar gewesen, schließlich wird in dem Abschnitt eine Kleine Anfrage der Linken erwähnt. In der zeitgleichen Kleinen Anfrage der Grünen (Bundestagsdrucksache 19/31816) wären diese Punkte offensichtlich geworden.)
Bahnsteighöhe
„Zur Vereinheitlichung definiert der internationale Eisenbahnverband (UIC) die sogenannte Normalbahnsteighöhe auf 55 cm“
Der Autor des Textes nennt in diesem Abschnitt zwar die UIC Normalbahnsteighöhe, nicht jedoch die Vorgaben der TSI, die für den Infrastrukturausbau in Europa mindestens die gleiche Relevanz hat. Diese sieht als Bahnsteighöhe 550 mm oder 760 mm vor. In Deutschland hat sich zumindest im Fernverkehr 760 mm durchgesetzt. Dies steht durchaus in Konkurrenz zu Bahnsteighöhen in vielen Nachbarländern.
Allerdings ist gerade im Kontext der Barrierefreiheit zu beachten, dass viele Akteur*innen in diesem Bereich vorrangig niveaugleiche Einstiege anstreben. Diese sind, insbesondere im Fernverkehr in Kombination mit Triebwagen und daher unterflur verbauter Antriebstechnik (sowie weiterer Komponenten), mit 550 mm Bahnsteighöhe nicht leichter zu erreichen als mit 760 mm.
Für Deutschland wäre daher erstmal wenig gewonnen, wenn jetzt z.B. bei Neubauten oder Sanierungen Bahnsteige einfach auf 550 mm abgesenkt werden. Diese würde beispielsweise die Barrierefreiheit im Fernverkehr noch weiter erschweren, alleine da der ICE L von Talgo niveaugleiche Einstiege auf 760 mm vorsieht. Auch bei der aktuell startenden Erarbeitung eines Konzeptes für den ICE 5 sind niveaugleiche Einstiege für 760 mm zumindest teilweise vorgesehen. Fahrzeuge aus anderen Ländern (z.B. TGV Duplex) mit 550 mm Bahnsteighöhe verdeutlichen, dass dort die Barrierefreiheit auch im Fahrzeug aufgrund vieler Stufen erschwert ist.
Dazu werden fahrzeugseitige Lösungen nicht beachtet. Hier gibt es bereits Ansätze, auch wenn diese insbesondere unter Berücksichtigung einer Barrierefreiheit bei Ein- und Ausstieg auf je einem 760 mm und 550 mm Bahnsteig teilweise noch nicht ausgereift sind. Der RABe 501 der SBB hat beispielsweise Einstiege in 550 mm und 760mm Höhe und löst dieses Problem fahrzeugseitig. Dies dürfte absehbar volkswirtschaftlich günstiger sein als ein Umbau vieler Bahnsteige in Deutschland.
Anzustreben wäre in Deutschland eine Harmonisierung innerhalb der SPNV-Netze, sodass diese nach einer Übergangszeit (ggf. mit fahrzeugseitigen Lösungen) möglichst einheitliche Bahnsteighöhen erhalten.
Das Thema und eine europaweite Abwägung sind somit kaum auf einer viertel Seite vorzunehmen. Dies würde eine vertiefte Betrachtung erfordern.
Fehlende Kriterien
Abschließend sollen hier einige Kriterien exemplarisch aufgeführt werden, die für den internationalen Zugverkehr ebenfalls berücksichtigt hätten werden können:
- Harmonisierung von Betriebsverfahren
- Vereinfachte Zugang für Triebfahrzeugführer*innen in Bahnnetze anderer Länder aufrechterhalten bzw. ermöglichen (zumindest Grenzbahnhöfe)
- Zulassung von Wagen und Fahrzeugen (insbesondere Personenverkehr)