Herausforderung für Politiker

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Foto: Caro­li­ne Holo­wiecki

01.06.2020

Die Wähler und auch die Hater warten im Netz

Von Caro­li­ne Holo­wiecki, mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Aus­ga­be der Fil­der-Zei­tung vom 29. Mai 2020 ent­nom­men

Wie hat Coro­na die Arbeit von Poli­ti­kern ver­än­dert? Mat­thi­as Gastel, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter aus Fil­der­stadt-Plat­ten­hardt, gibt Ein­bli­cke in einen kom­plett umge­krem­pel­ten All­tag.

Plat­ten­hardt – Auf der Bank hält es Mat­thi­as Gastel nicht lang. Wäh­rend er spricht, bleibt er offen­bar lie­ber in Bewe­gung. Die Hän­de ges­ti­ku­lie­ren, der Blick sucht den Boden ab. So zieht er im Schat­ten eines Bau­mes sei­ne Krei­se. Mat­thi­as Gastel ist im Arbeits­mo­dus. Es ist kurz nach 9 Uhr. Um 6.30 Uhr hat der Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te aus Fil­der­stadt ein Radio-Inter­view gege­ben, danach war er jog­gen. Zum wei­ßen Hemd trägt er Lauf­schu­he. Die Map­pe für den Anschluss­ter­min hat er schon dabei.

Obwohl wegen Coro­na Außen­ter­mi­ne aktu­ell ent­fal­len, hat der Grü­nen-Poli­ti­ker nicht weni­ger zu tun, wie er sagt. Bei­spiel Mit­te Mai: Mat­thi­as Gastel rich­tet vier Ver­an­stal­tun­gen in einer Woche aus. Eine befasst sich mit dem Wahl­recht ab 16, eine mit Ver­schwö­rungs­theo­rien, ein­mal trifft er den Lan­des­ver­kehrs­mi­nis­ter, und ein Gespräch mit einem Infek­tio­lo­gen ist auch geplant. Alles ist ins Netz ver­legt, in Video­kon­fe­ren­zen und Live­streams. Tech­ni­ken, die er sich müh­sam aneig­nen muss­te, wie er bekennt. „Ich habe sehr jun­ge Mit­ar­bei­ter, die da affin sind“, sagt der 49-Jäh­ri­ge. Wegen der Instal­la­ti­on man­cher Apps kämp­fe er noch immer mit der Bun­des­tags­ver­wal­tung.

Der Ver­kehr ist sein Ste­cken­pferd

Seit Coro­na ist Poli­tik ins Inter­net ver­legt. Statt Applaus gibt es Likes. „Wir hät­ten das vor drei Mona­ten gar nicht machen kön­nen. Heu­te sind wir auf­ge­schlos­sen, und wir haben ein Publi­kum, das viel auf­ge­schlos­se­ner ist“, sagt Gastel. Auch das Infor­ma­ti­ons­be­dürf­nis sei grö­ßer. Bis zu 70 Men­schen klick­ten sich in die Online-Treffs rein, doch auch das gute alte Tele­fon sei gefragt. Zur jüngs­ten Sprech­stun­de hat­ten sich 13 Per­so­nen für 30-Minu­ten-Tele­fo­na­te gemel­det.

In Plat­ten­hardt, wo er seit der Kind­heit lebt und die Eltern woh­nen, ken­nen Mat­thi­as Gastel vie­le. Die Kar­rie­re bei den Grü­nen ver­lief seit dem Par­tei­ein­tritt 1989 strin­gent. Orts- und Kreis­vor­stand, 20 Jah­re Gemein­de­rat, fünf Jah­re Kreis­tag. Seit 2013 ver­tritt er den Wahl­kreis Nürtingen/Filder im Bun­des­tag. Dort hat er das The­ma Ver­kehr zu sei­nem Spe­zi­al­ge­biet erko­ren. Er ist Mit­glied im Aus­schuss für Ver­kehr und digi­ta­le Infra­struk­tur und dort bahn­po­li­ti­scher Spre­cher sei­ner Frak­ti­on. Bereits in der Kom­mu­nal­po­li­tik habe hier sein Inter­es­se gele­gen. 2011 grün­de­te Gastel das Fil­der­städ­ter Akti­ons­bünd­nis “Ja zum Aus­stieg aus Stutt­gart 21”. Zudem setzt er sich für den Aus­bau der Gäu­bahn ein und behält den Bus- und S‑Bahn-Ver­kehr auf den Fil­dern im Blick. Zum Out­door-Inter­view kommt der Sozi­al­päd­ago­ge und Betriebs­wirt­schaft­ler mit dem Rad. Das erwar­tet man von einem Grü­nen.

Vie­le Brie­fe sei­en vol­ler Ver­schwö­rungs­theo­rien

Doch Mat­thi­as Gastel ist tat­säch­lich Frei­zeit­sport­ler. Der Kri­se zum Trotz geht er täg­lich jog­gen, im Wald im Wei­ler­hau oder im Mau­er­park nahe sei­ner Ber­li­ner Woh­nung. „Die Lun­ge will durch­ge­at­met sein“, und den Aus­gleich braucht er wohl auch. Der Bun­des­po­li­ti­ker ist schon lan­ge in sozia­len Netz­wer­ken unter­wegs, und der Ton, der dort ange­schla­gen wird, ist rau. Was jüngst mas­siv zuge­nom­men hat, ist zudem der Mail­ver­kehr. Pro Tag um die 150 Zuschrif­ten zählt der Grü­nen-Abge­ord­ne­te. Vie­le Brie­fe sei­en lang und „vol­ler Ver­schwö­rungs­my­then“. Ange­la Mer­kel sei eine Sata­nis­tin, diver­se Poli­ti­ker dürf­ten sich „auf Ehren­plät­ze bei den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen freu­en“. „Es gibt Momen­te, da macht die Poli­tik weni­ger Freu­de“, sagt er ohne auf­zu­schau­en. Trotz teils har­scher Angrif­fe möch­te Mat­thi­as Gastel mög­lichst vie­le Mails beant­wor­ten. „Man muss es ver­su­chen. Ich will nicht, dass die­se Leu­te durch die Nicht­ant­wort noch bestärkt wer­den.“

Die Coro­na-Kri­se ist poli­tisch „eine extrem auf­rei­ben­de Zeit“, sagt Mat­thi­as Gastel. Wegen der hohen Dyna­mik, der gro­ßen Ver­un­si­che­rung, neu­er For­ma­te und Dis­kus­sio­nen. Statt klas­si­scher Ver­kehrs­the­men ging’s für ihn jüngst um Güter­zü­ge, die Pas­ta und Zel­lu­lo­se für Klo­pa­pier brin­gen, oder geschlos­se­ne Toi­let­ten auf Auto­bahn­rast­stät­ten, die Lkw-Fah­rer in Nöte brin­gen. „Bei mir hat sich der Fokus ganz klar ver­scho­ben.“ Die Schlag­zahl hat indes nicht nach­ge­las­sen. Wäh­rend Gastel die letz­ten Sät­ze spricht, setzt er schon den Fahr­rad­helm auf. Er muss los. Nächs­ter Ter­min.

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