Autorenpapier mit Toni Hofreiter
Während viele Reisende Tagreisen mit der Bahn von deutlich über vier Stunden als lang oder zu lang empfinden, ist es über Nacht kein Problem, wenn ein Zug zwölf Stunden oder mehr unterwegs ist. Abends den Tag im Zug gemütlich ausklingen lassen, acht Stunden schlafen und morgens über 1.000 km weiter von der aufgehenden Sonne geweckt zu werden, bevor der Zug mitten im Zielort einfährt – das ist eine bequeme klimafreundliche Alternative, für die jetzt die Weichen gestellt werden müssen. Direkte Nachtzugverbindungen etwa von Berlin nach Rom, von Köln nach Barcelona, von München nach Athen oder von Warschau quer durch Deutschland nach Paris haben große Marktchancen.
Für ein Fachgespräch der grünen Bundestagsfraktion zum Thema Nachtzug im Januar 2020 haben wir exemplarisch mögliche Fahrzeiten für die Nachtzugverbindung nach Rom dargestellt: Abends um 19:30 Uhr in Berlin einsteigen, morgens um 9:20 Uhr entspannt in Rom ankommen (siehe Grafik). Als Grüne arbeiten wir an der Renaissance des Trans-Euro-Night (TEN), den man angesichts der wachsenden Hochgeschwindigkeitsnetze und der möglichen hohen Geschwindigkeiten als „Euro-Nacht-Sprinter“ (ENS) bezeichnen könnte.
Unsere Kernforderungen:
- Eine nationale Aufgabenträgerorganisation für die Entwicklung und Steuerung des Fernverkehrs in Deutschland
- Eine europäische Bahn-Agentur für die EU-weite Netz- und Angebotskooperation und einheitliche Vertriebs- und Vergaberegeln
- Europaweite Nacht-Sprinter-Verbindungen zwischen 1.000 und 2.000 Kilometer und 8 bis 16 Stunden Fahrzeit, zusätzlich zu vielen weiteren Nachtzugverbindungen bis 1.000 Kilometer
Einzelne Länder wie Schweden und Österreich gehen voran
In einigen europäischen Ländern ist die Diskussion um die Zukunft des Nachtzugs deutlich weiter als in Deutschland, wo die Deutsche Bahn im Einvernehmen mit der Bundesregierung völlig aus dem Nachtzugmarkt mit Schlaf- und Liegewagen ausgestiegen ist. Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) sind mit ihrem „Nightjet“-Angebot genau den umgekehrten Weg gegangen und haben mit Erfolg in europäische Nachtzugverbindungen investiert. Die „kleine“ ÖBB ist heute mit 25 Verbindungen der größte Nachtzuganbieter in Europa.
In Schweden wurde 2017 mit der aufkommenden Fridays-for-future-Bewegung der Begriff „Flugscham“ (flygskam) geprägt. Von Stockholm aus braucht man mit der Bahn heute tagsüber zehn Stunden bis Hamburg, Nachtzüge sind Fehlanzeige. Um es den Schweden zu ermöglichen, komfortabel und ohne Umstiege flugfrei nach Mitteleuropa gelangen, bereitet die nationale schwedische Verkehrsbehörde Trafikverket aktuell eine Ausschreibung einer solchen Verbindung vor. Verschiedene Linien sind in der Diskussion: Malmö – Köln, Stockholm – Hamburg und möglicherweise sogar Stockholm – Brüssel.
Sicher durch die Nacht – Ausgeschlafen am Ziel
Wir Grüne im Bundestag haben uns die potenziell längste der möglichen Strecken etwas genauer angesehen. Die rund 1.650 Kilometer lange Strecke von Stockholm nach Brüssel könnte in rund 14 Stunden bewältigt werden, wenn die neuen europäischen Nachtzüge auf bis zu 230 km/h ausgelegt sind. Bei einer Abfahrt in Stockholm um 19:00 Uhr würde der Nachtzug am nächsten Morgen um 9:40 Uhr Brüssel erreichen (siehe Grafik). Perfekt für Touristinnen und Touristen, Geschäftsreisende oder aber auch Abgeordnete des Europaparlaments. Im Nachtzug wird die Distanz ganz einfach „im Schlaf“ oder beim Abendessen und Frühstück überwunden, ohne lästige Anreise zum Flughafen, lange Wartezeiten, stressige Check-in-Prozeduren und enge Sitze.
Bei der genannten Beispielsstrecke würde der Euro-Nacht-Sprinter zwischen Kopenhagen um 23:40 Uhr und Hamburg um 4:00 Uhr ohne Halt durchfahren. Auf diesem „Gute-Nacht-Abschnitt“ (Nachtsprung) gibt es keine Ein- und Ausstiege und die Nachtruhe ist gesichert. Da es bei lang laufenden Nachtzügen lange Streckenabschnitte vor und nach dem „Gute-Nacht-Abschnitt“ gibt, halten wir es für wichtig, dass für den Zug jede beliebige Relation gebucht werden kann – um Angebot und Auslastung zu erhöhen und im Gegenteil zum Flugzeug auch Reiseziele in der Fläche zu bedienen. Wir Grüne setzen uns für vier Komfortkategorien für alle Reisenden ein: Vom preisgünstigen, bequemen Liegesessel über den klassischen Liegewagen und die durch die ÖBB neu geplanten Single-Schlafkapsel bis hin zum Schlafwagenabteil mit maximaler Privatsphäre und Komfort. Moderne Waschräume mit Duschen und ein gutes kulinarisches Angebot stehen allen Reisenden zu Verfügung.
Nichts für Schlafmützen – Für den Nachtzugverkehr die politischen Weichen stellen
Die schwedische Trafikverket geht davon aus, dass die neue Nachtzugverbindung von Schweden nach Mitteleuropa bereits 2022 oder 2023 den Betrieb aufnehmen könnte. Wie in fast allen europäischen Ländern ist es in Schweden möglich, Fernverkehrslinien der Bahn öffentlich auszuschreiben. Die starre Trennung zwischen vermeintlich eigenwirtschaftlichem Fernverkehr und angeblich nicht eigenwirtschaftlichem, bestelltem Nahverkehr gibt es praktisch nur in Deutschland. Sie hat dazu geführt, dass zahlreiche deutsche Städte vom Fernverkehr abgeschnitten wurden. Wir brauchen in Deutschland endlich einen nationalen Aufgabenträger, der das Fernverkehrs-Angebot steuert und eine gute und schnelle flächendeckende Anbindung mindestens aller Städte über 100.000 Einwohner sicherstellt.
Am Beispiel der Relation Stockholm-Brüssel wird deutlich, dass Deutschland aufgrund seiner zentralen Lage in Europa eine Schlüsselfunktion für die Renaissance des europäischen Nachtzugs einnimmt. Doch während sich der dänische Verkehrsminister erfreut über die schwedische Nachtzuginitiative zeigte und die dänische Regierung bereits Haushaltsmittel für eine Unterstützung des Nachtzugs bewilligt hat, ist der Vorschlag Schwedens, das Nachtzugangebot über einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag auszuschreiben, bei Gesprächen mit Bundesregierung auf Widerstand gestoßen (Quelle: BAHN-REPORT 5/20). Mit Andreas Scheuer hat Deutschland den dritten Verkehrsminister aus den Reihen der CSU, der Bahnpolitik und Klimaschutz zumeist wie überflüssiges Gedöns behandelt. Die Bundesregierung muss endlich ihren Job in der Mobilitätspolitik machen. Das heißt auch, jetzt die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union dazu nutzen, die Grundlagen für ein europäisches Nachtzugnetz zu schaffen. Dabei sollte Deutschland besonders bei den Nachtzugrelationen im eigenen Land mit gutem Beispiel vorangehen und klimaschonende, elektro-mobile Fernreiseangebote auf der Schiene ermöglichen.
Dazu gehören auch attraktive Tickets. Aus unserer Sicht sollten Sparpreise zwischen 29 und 99 Euro für die günstigste Komfortklasse und für flexible Frühbucher in allen Euro-Nacht-Sprintern verfügbar sein. Damit wäre Nachtzugfahren auch preislich konkurrenzfähig mit günstigen Flügen. Dies ließe sich wie im Nahverkehrsbereich zwischen Besteller und Erbringer in Verkehrsverträgen regeln.
Deutschland muss eine Schlüsselrolle im europäischen Bahnverbund spielen
Internationale Züge, die über öffentliche Dienstleistungsaufträge in unseren Nachbarländern kofinanziert werden, dürfen nicht an den deutschen Grenzen stehen bleiben. Es ist angesichts der Einführung des Deutschland-Takts und des Ziels, den Marktanteil der Schiene deutlich zu erhöhen, nicht mehr angemessen, dass Deutschland als einziges Land innerhalb der Europäischen Union nicht auf die Kompetenzen einer nationalen Aufgabenträgerorganisation zurückgreifen kann. Privaten Anbietern ist es praktisch nicht möglich, für lang laufende Verbindungen durch drei oder vier Länder die Trassen jeweils einzeln zu verhandeln und angesichts horrender, sich summierender Trassenpreise gleichzeitig allen Reisenden noch attraktive Tickets anzubieten. Das wäre so, als müsste die Lufthansa für jeden Flug die Überflugrechte aller überflogenen Länder einzeln beantragen und dafür zudem noch sehr viel Geld bezahlen.
Es bedarf dringend einer europäischen Bahn-Agentur für Netz- und Angebotskooperation und einheitliche Vergaberegeln. Ökologisch schädliche Subventionen für den Luftverkehr wie etwa die komplette Befreiung des Flugbenzins von der Energiesteuer müssen auf europäischer Ebene, gegebenenfalls zunächst auch bilateral zwischen einzelnen Vorreiterstaaten, aufgehoben werden. Gleiches gilt auf nationaler Ebene für die Steuervergünstigung von Dieselkraftstoff im Pkw-Bereich. Wer klimafreundliche Bahnfahrten machen möchte, darf dafür am Ticketschalter nicht bestraft werden.
Der beispielhafte Euro-Nacht-Sprinter Stockholm – Brüssel hält in sieben größeren Städten vor und acht Städten nach dem „Gute-Nacht-Abschnitt“. Mit einem einzigen Zug werden also 56 direkte internationale Städteverbindungen über Nacht möglich (siehe Grafiken). In sieben dieser Städteverbindungen gibt es derzeit Direktflüge, die durch die neue Zugverbindung überflüssig würden. 49 neue direkte internationale Städteverbindungen entstehen überhaupt erst durch das neue Angebot.
Wir haben überschlagen, welche CO2-Einsparungen aus lang laufenden Nachtverbindungen zwischen 1.000 und 2.000 Kilometer gegenüber Flugreisen resultieren würden: Durchschnittlich 1.200 Kilometer Strecke flugäquivalent mit einer durchschnittlichen täglichen Besetzung von 200 Reisenden bedeuten fast 35.000 Tonnen CO2-Einsparungen pro Jahr. Bei 20 solcher Euro-Nacht-Sprinter-Verbindungen gelangen jährlich knapp 700.000 Tonnen weniger CO2 in die Atmosphäre. Durch ein gut ausgebautes europäisches Nachtzugnetz, das Hauptstädte verbindet und Urlaubsregionen erschließt, können sehr viele Flugverbindungen dauerhaft ersetzt und der Straßenverkehr vermindert werden.
Der neue schwedische Nachtzug ist eine sehr konkrete und greifbare Chance für ein Pilotprojekt im Rahmen der Ratspräsidentschaft Deutschlands. Diese Chance muss Deutschland jetzt aufgreifen, um europäische Kooperationsmodelle zwischen nationalen Aufgabenträgern und Eisenbahnverkehrsunternehmen zu erarbeiten. Deutschland spielt eine Schlüsselrolle in der europäischen Bahnpolitik. Auf vollmundige Ankündigungen von Verkehrsminister Scheuer, das transeuropäische Bahnnetz stärken zu wollen, müssen deswegen endlich auch konkrete Taten und Weichenstellungen folgen.
Ein neues, modernes europäisches Nachtzugnetz fängt an zu wachsen
Bereits vor zwölf Jahren haben wir Grüne im Bundestag einen Vorschlag gemacht, wie ein modernes, schnelles europäisches Nachtzugnetz aussehen kann à http://www.nachtzug-retten.de/wp-content/uploads/2016/05/nachtzugnetz-hofreiter.pdf. Dieses Konzept ist heute aktueller denn je. Als Kernland zukünftiger Euro-Nacht-Sprinter muss Deutschland im künftigen Fahrplan für den Deutschland-Takt attraktive Angebotstrassen für Nachtzüge vorsehen, die marktgerechte Ankunftszeiten und günstige Preise erlauben. Zudem brauchen wir eine europaweite Vertriebspflicht von Fernverkehrsangeboten gegen eine geringe, marktübliche Vertriebsprovision, um der zunehmenden Zersplitterung und Segmentierung der europäischen Eisenbahntarife entgegenzuwirken und ein verbraucherfreundliches Ticketing sicherzustellen. Ein internationales Bahnticket zu buchen, muss mindestens so einfach werden, wie heute die Buchung eines Flugtickets. Die Vertriebspflicht muss daher die Weitergabe aller buchungsrelevanten Daten mit einheitlichen Schnittstellen enthalten, damit Bahnreisen über alle großen Buchungsportale wie Trainline, den DB Navigator oder das SNCF-Portal oui gebucht werden können.
Diese Vertriebspflicht über die nationalen Aufgabenträgerorganisationen bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen durchzusetzen, muss eine der Kernaufgaben der europäischen Bahn-Agentur werden. Weitere wichtige Aufgaben sind kundenfreundliche, EU-weit einheitliche Regelungen für Anschlüsse bei Verspätungen oder die Einnahmeverteilung bei europäischen Sparpreisen wie dem 49-Euro-Ticket.
Die Bahn ist das Rückgrat eines klimafreundlichen Mobilitätssystems. Es ist überfällig, gezielt die Investitionen in Schienennetz und attraktive Bahnangebote auszuweiten und umgekehrt öffentliche Mittel für neue Fernstraßen und neue Flughafenterminals in Europa drastisch zurückzufahren. Beim Klimaschutz ist die Schiene unschlagbar. Viele Haushalte in Deutschland unterhalten in erster Linie für den Jahresurlaub größere Limousinen oder Kombis, oft auch als teuren Zweitwagen, der im Alltag nur wenig gebraucht wird. Aus der Kombination von Nachtzug in die Urlaubsregion und Mietwagen oder Leihfahrräder am Urlaubsort kann ein neues Erfolgsmodell werden, das das Klima entlastet, Staus zu Ferienbeginn und ‑ende vermindert und schon bei der Anreise Erholung bringt.
Der Nachtzug muss jetzt aus der Nische raus– er ist ein zentraler Baustein einer modernen und bezahlbaren Mobilität von morgen. Deutschland und Europa stehen deswegen am Beginn der 2020er Jahre vor einer verkehrspolitischen Richtungsentscheidung. Die Corona- und die Klimakrise müssen uns wachrütteln und die Wiedergeburt eines europäischen Nachtzugnetzes einleiten.