Weitere praktische soziale Erfahrungen – für mich persönlich und für meine politische Arbeit
Im Hinblick auf die anstehende Bundestagswahl habe ich den Umfang meiner Selbstständigkeit schrittweise massiv herunter gefahren. Den Teil meiner gewonnen Zeit, die ich nicht in den Wahlkampf steckte, habe ich in Hospitationen in verschiedenen sozialen Arbeitsfeldern investiert. Damit habe ich mir einen alten Wunsch erfüllt: Einblick zu nehmen in unterschiedlichste Lebenslagen von Menschen, die dauerhaft oder vorübergehend auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sind. Und ich konnte so manch alte Berufserfahrungen, beispielsweise aus der Altenhilfe, auffrischen. Andere, eher theoretische Kenntnisse wie über die Kindergartenarbeit, konnte ich um praktische Erfahrungen ergänzen.
Kindergärten und Schülerhort
Kindertageseinrichtungen hatten mich in den vergangenen Jahren beruflich und kommunalpolitisch sehr viel beschäftigt. Als Personaldienstleister hatte ich Fachpersonal dorthin überlassen und vermittelt. Als Stadtrat habe ich den Neubau und die konzeptionelle Ausrichtung vieler Einrichtungen mitverantwortet und zahlreiche Kitas besucht. Als Kreisrat und Mitglied im Jugendhilfeausschuss des Landkreises habe ich die Entwicklung der Angebote in den Kreiskommunen mitverfolgt. Und als Praxislehrer habe ich angehende Erzieherinnen und Erzieher während ihrer Praktika und ihres Anerkennungsjahres begleitet. Doch selber in einer Kindertageseinrichtung gearbeitet hatte ich bisher nie – und konnte mir dies lange nicht vorstellen.
Ein kirchliches Kinderhaus in Filderstadt hatte Vertretungsbedarf und ich übernahm diese Dienste sehr gerne. Allerdings handelte es sich hier nicht um eine Hospitation, sondern ich wurde als Fachkraft im Dienstplan eingeplant. Aus einigen Tagen wurden mehrere Monate. In Vollzeit umgerechnet arbeitete ich über vier Wochen in dem Kindergarten, dem auch ein Hort für Schulkinder angeschlossen ist. Die Kinder fassten überraschend schnell Vertrauen zu mir und fremdelten auch nicht, wenn ich erst nach zwei oder drei Wochen Pause wieder zum Einsatz kam. Meine Schwerpunkte waren die Angebote im Turnraum und die Hausaufgabenbetreuung für eine Gruppe von zumeist vier bis fünf Schulkindern. Wenn ich das Haus betrat wurde ich häufig gleich von Kindern gefragt „Gehst du mit uns in den Turnraum?“. Sehr oft habe ich auch Spiele wie Memory mit den Kindern gespielt (und anfangs fast immer verloren, aber auch in meinem Alter kann man sich noch steigern!) und vorgelesen. Unvergesslich bleiben mir die vielen Fragen und Sprüche der Kinder. So fragte mich beispielsweise ein vierjähriges Mädchen nach meinem Alter. Als ich „42“ geantwortet hatte erwiderte das Mädchen nach kurzem Überlegen: „So alt wurde mein Hamster nicht“.
Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrungen, zu denen auch die Begegnungen und der Austausch mit den Kolleginnen gehörten, und kann mir die Arbeit in einer Kindertageseinrichtung nun auch auf Dauer sehr gut vorstellen. Der Kindergarten ist ein sehr schönes und sinnstiftendes Arbeitsfeld. Nur schade, dass nicht genügend junge Menschen ihren beruflichen Weg dorthin finden!
Um noch weitere Konzepte kennen zu lernen, hospitierte ich zwei Tage in einem Waldkindergarten. Ich erinnere mich noch an die gemütlichen Morgenrunden im Tippi – mit dem Lagerfeuer in der Mitte und dem Singen zur Gitarrenbegleitung. Was mich beeindruckt hat, war das Selbstbewusstsein der Kinder, so auch mir (dem Fremden) gegenüber. Mutig und gut in ihrer Selbsteinschätzung nahm ich sie ebenfalls wahr, wenn sie kletterten, auf Baumstämmen über der „Schlucht“ balancierten und steile Abhänge im Wald herunterrutschen. Die Kinder beschäftigen sich und spielen mit dem, was sie im Wald vorfinden. Dies regt ihre Kreativität an und sie sind fast ständig in Bewegung. Und sie interessieren sich für all die Pflanzen und Tiere, die sie im Wald entdecken. Solche „Abenteuer“ wünsche ich allen Kindern!
Altenhilfe/Gerontopsychiatrie
Als gelernter Altenpflegehelfer ist mir die Arbeit in Altenheimen nicht neu. Die Ausbildung liegt aber lange zurück und seither hat sich sehr viel verändert.
Drei Tage war ich im St. Vinzenz, einer gerontopsychiatrischen Facheinrichtung, und hospitierte in drei sehr verschiedenen Bereichen.
Am ersten Tag war ich im Bereich „Demenz und Pflege“ eingesetzt. Seit langem durfte ich wieder einen alten Menschen waschen. Beim Mittagessen reichte ich mehreren älteren Menschen das Essen. Die zunehmende Anzahl von Menschen mit Demenz machte mir deutlich wie wichtig es ist, hierfür spezifische Angebote weiterzuentwickeln und auszubauen. So muss beispielsweise auf das zumeist sehr hohes Mobilitätsbedürfnis der an Demenz erkrankten Menschen reagiert werden. Und vom Personal wird ein hohes Maß an Geduld abverlangt.
Den zweiten Tag verbrachte ich auf der Palliativstation. Medikation und Lagerung spielen hier eine große Rolle.
Am dritten Tag nahm ich wertvolle Einblicke in den sozial-psychiatrischen Bereich, eine „geschlossene“ Station mit überwiegend jüngeren Bewohnerinnen und Bewohnern. Feste Strukturen und zugleich ein Höchstmaß an individueller Eigenverantwortung sollen den Menschen helfen, mit ihren Situationen bestmöglich zurecht zu kommen und Kompetenzen zu erhalten bzw. wieder zu erlangen.
Für mich interessant war die Feststellung des Personals in allen drei Bereichen, dass die vom Gesetzgeber erlassene Vorschrift für Einzelzimmer sehr kritisch gesehen wird. Die Fachkräfte beobachten dadurch eine Tendenz zur Vereinsamung.
Tafelladen
Zwar nur einen Tag, dafür einen sehr intensiven, half ich im Tafelladen mit. Der Tag begann damit, dass ich zwei „1,50 €-Kräfte“ im Kleintransporter beim Einsammeln von aussortierten Lebensmitteln zu verschiedenen Discountern begleitete. Viele Kisten mit Salat, Obst, Gemüse, Kräuterpflanzen und Backwaren mussten geschleppt und verladen werden. Zurück im Tafelladen sortierten wir verdorbene Ware aus und platzierten die gute im Verkaufsraum. Rechtzeitig zur Ladenöffnung waren die Vorarbeiten abgeschlossen und ich half überwiegend beim Verkauf der Backwaren. Einige Kunden wollten Unmengen an Lebensmitteln einkaufen und mussten – teilweise auch energisch – auf die Verkaufsmengenbegrenzungen hingewiesen werden. Im Tafelladen eingekauft werden darf nur mit einem Berechtigungsausweis, der für Menschen mit geringem Einkommen bzw. in ALG II-Bezug ausgestellt wird.
Neu für mich (wenn auch logisch): Am Ende eines jeden Monats werden im Tafelladen mehr Lebensmittel und weniger Bekleidung verkauft. Am Monatsanfang, wenn noch „viel“ Geld verfügbar ist, werden die Lebensmittel eher bei Aldi und Lidl eingekauft.
Die Kontakte zu den Helfern und Kunden sowie die Erläuterungen der Tafelleiterin waren mir sehr wichtig. Denn zwischen dem Klientel der Tafelläden und den politisch Verantwortlichen bestehen für gewöhnlich kaum Kontakte – obwohl diese Menschen von vielen politischen Entscheidungen in besonderer Weise betroffen sind.
Krankenhaus
Zwei Tage durfte ich in der Filderklinik den Ärzten und dem Pflegepersonal über die Schultern schauen. Die Filderklinik ist ein schulmedizinisches Krankenhaus mit anthroposophischen Zusatzangeboten.
Den ersten Tag verbrachte ich in der Chirurgie. Ich begleitete ein Team aus zwei bis drei Ärzten und ein bis zwei Pflegekräften bei der Visite. Später erhielt ich Einblicke in die der Chirurgie angeschlossene Notfallambulanz. Hier wurden Platzwunden und Knochenbrüche von Kindern und Erwachsenen behandelt.
Am Rande gab es informative Gespräche mit Ärzten. So beklagte ein Arzt Fehlanreize durch das Vergütungssystem zugunsten von zu vielen Operationen. Deutlich wurde mir die veränderte Aufgabe des Krankenhauses durch die deutlich verkürzten Verweilzeiten: Das Krankenhaus ist für die ärztlich-medizinische Versorgung zuständig, die danach evtl. erforderliche Pflege findet zuhause (und notfalls im Heim) statt. Bei aller Hektik und Stress für die Ärzte und das Pflegepersonal hatte ich das Gefühl, dass sie sich ausreichend Zeit für notwendige Gespräche mit den Patientinnen und Patienten nehmen.
Den zweiten Tag durfte ich in der Kinder- und Jugendmedizin verbringen. Die Fallbesprechungen am Morgen und am Mittag waren interessant – weil im interdisziplinär arbeitenden Team die berufsspezifischen Sichtweisen auf die jungen Patienten eingebracht werden, woraus sich umfassende Patientenbilder ergeben. Besonders belastend empfand ich es in der Neonatologie (Station für Frühgeborene und kranke Neugeborene). Ich sah ein winziges Frühchen an vielen Kabeln im Brutkasten liegen. Es wird sich aber gesund entwickeln, wie mir die Ärzte versicherten. Einem anderen neugeborenen Kind, das unter einer seltenen Erbkrankheit leidet, geben die Ärzte hingegen nur noch wenige Monate. Für die Eltern stellt sich die vermutlich schwierigste Frage ihres Lebens: Soll das Leben durch die Apparatemedizin künstlich verlängert werden? Sie wissen für ihre Entscheidung erfahrene und einfühlsame Klinikkräfte an ihrer Seite.
In der Kinder- und Jugendpsychosomatik konnte ich mich mit einigen Mädchen unterhalten, die unter Essstörungen leiden.
Am Rande der Arbeit und vor allem während des Mittagessens konnte ich mich auch auf dieser Station mit mehreren Ärzten und Pflegekräften über politische Fragestellungen unterhalten. So über die DRG (Fallkostenpauschalen), die grundsätzlich für gut befunden werden. Die Arbeit des MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) kommt hingegen mit seiner „bürokratischen Kontrollwut“ weniger gut weg. Außerdem wurde der Einfluss der Pharmalobby auf die Politik bemängelt.
Weitere Hospitationen
…hätte ich gerne in einer Justizvollzugsanstalt, beim Jobcenter und in der Obdachlosenbetreuung absolviert. Diese kamen jedoch aus verschiedenen Gründen, u. a. wegen ungelöster Datenschutzprobleme, nicht zustande. Vielleicht gelingt es mir, diese zu späteren Zeitpunkten nachzuholen.
Fazit
Die Arbeit im Kindergarten und die Hospitationen haben mir viele neue Einblicke und Sichtweisen ermöglicht, die ich gerne in meine weitere politische Arbeit einfließen lassen möchte. Und ich habe mir fest vorgenommen, solche Hospitationen zu wiederholen, wenn sich mein Wunsch nach einem Bundestagsmandat erfüllt. In den sitzungsfreien Zeiten möchte ich mir für diese Kontakte und Erfahrungen einige Tage frei schaufeln. Das ist gut investierte Zeit.
Ich bedanke mich bei allen, die mir diese Hospitationen ermöglicht haben und sich Zeit für mich genommen haben!