
03.05.2019, Autorenpapier
Grenzüberschreitend verbinden:
Initiative für ein europäisches Nachtzugnetz
von Matthias Gastel (MdB), Cem Özdemir (MdB), Michael Cramer (MdEP) und Franziska Brantner (MdB)
Von Hamburg, München oder Berlin nach Paris, Rom, Warschau oder Barcelona? Dank eines vereinten Europas ist das heute kinderleicht und für viele Menschen selbstverständlich. Die Verkehrsmittel, die dabei genutzt werden, weisen wesentliche Unterschiede auf. Das Flugzeug ist am schnellsten, grenzüberschreitend vielfach am unkompliziertesten und stellt für Reisende oftmals die billigste Variante dar. Doch es belastet unser Klima am stärksten. Wer mehr Zeit hat und dafür weniger Geld, nimmt den Fernbus. Selbst für eingefleischte Bahnfreaks und Pufferküsser kommt es spätestens bei der Buchung zum Treueschwur. Wirklich mit der Bahn oder doch das Flugzeug? Nur die wirklich Hartgesottenen bleiben auf der Schiene. Schließlich ist schon der Fahrkartenkauf über eigentlich längst unsichtbare Grenzen hinweg ein Puzzlespiel, die Reisezeiten oft ungünstig und dann zahlt man für klimafreundliches Verhalten noch obendrauf. Verkehrswende geht anders. Bei der Verkehrswende geht es darum, klimafreundliche Angebote zu schaffen, die tatsächlich funktionieren. Unser Vorschlag: Ein europaweites Netz aus Nachtzügen.
Nachtzüge? Das klingt für einige nach 1970er-Jahre, Wein aus Tetrapaks und unbekannten Menschen in Schlafanzügen. Ein moderner Nachtzug wartet allerdings mit unschlagbaren Vorteilen auf: Im Schlaf komfortabel reisen, keine Zeit verlieren, ausgeruht ankommen und dabei Hotelkosten einsparen. Und das Ganze auch noch maximal klimafreundlich. Dennoch ist der Nachtzug vom Aussterben bedroht. Und das liegt gar nicht an seinem fehlenden Erfolg. Verantwortlich dafür ist vielmehr eine Kombination von bahnfeindlichen Rahmenbedingungen, verfehlter Verkehrspolitik und kurzsichtigen Unternehmensentscheidungen. Aber der Nachtzug hat Potential in Europa und das wollen wir nutzen.
Vorteile erkennen, Potentiale nutzen
Wir wollen den Nachtzug in Europa wiederbeleben. Nicht aus Nostalgie, sondern weil ein modernes europäisches Nachtzugnetz eine attraktive Alternative zum europäischen Flugverkehr bieten kann. Und es braucht attraktive Bahnangebote, wenn wir die international vereinbarten Klimaschutzziele erreichen wollen. In Sachen Klimaschutz ist der Verkehr das Sorgenkind Nummer 1. Statt zu sinken, bewegt sich der Ausstoß von Klimagasen im Verkehrssektor Deutschlands weiter auf dem Niveau von 1990.
In der EU ist der Verkehr der einzige Sektor, in dem die Emissionen seit 1990 gestiegen sind und zwar um 25 Prozent. Dagegen hat die Industrie eine Senkung um 38 Prozent hinbekommen und auch die privaten Haushalte haben eine Minderung von 25 Prozent erreicht. Ohne eine Verkehrswende werden wir die Klimakrise nicht stoppen!
Wollen wir im Verkehr etwas ändern, kommt der Schiene als besonders energieeffizientem und umweltfreundlichem Verkehrsträger hierbei eine zentrale Rolle zu. Grundsätzlich sind die Ausgangsbedingungen für ein Nachtzugnetz gut: Europa verfügt über ein dichtes Eisenbahnnetz. Zudem haben die Mitgliedstaaten in Mittel- und Westeuropa seit den 1970er-Jahren verstärkt in neue Schnellfahrstrecken investiert, wodurch im Nachtsprung Distanzen bis zu 2.000 Kilometer in akzeptablen Reisezeiten zurückgelegt werden können.
Wer mit dem Nachtzug fährt, spart Zeit. Der mühsame Anreisetag entfällt genauso wie das Warten an Sicherheitskontrollen und Gepäckbändern. Im modernen Nachtzug lässt es sich schlafen, duschen und frühstücken. Kurzum: Der Nachtzug bietet Reisekultur vom Feinsten. Ob Urlaub oder Geschäftsreise – bei Ankunft kann das Tagesprogramm direkt losgehen.
Es geht nicht um neue Nachtzüge von Berlin nach München oder Frankfurt. Der Nachtzug ist keine Konkurrenz zum ICE und anderen guten Tagesverbindungen. Er ist eine ideale Ergänzung und macht es möglich, das Potential von Hochgeschwindigkeitstrassen auch nachts für lange Strecken optimal zu nutzen. Innerhalb eines 12-Stunden-Fensters sind dann Reiseweiten von bis zu 2.000 Kilometern und darüber hinaus möglich.
Im Entfernungsbereich zwischen 1.000 und 2.000 Kilometer kann der Nachtzug seine Stärken voll ausspielen. Das macht den Nachtzug zu einem per se europäischen Projekt. Auf diesen Entfernungen bietet er die einzige ernsthafte klimapolitische Alternative zum Flugzeug. Anders ausgedrückt: Wer die Klimaschutzziele im Verkehr erreichen will, kommt um ein europäisches Nachzugnetz nicht herum. Wir Grüne wollen es als einen zentralen Bestandteil einer europäischen Offensive für eine starke Schiene.
Nachtzüge – nicht von gestern
Trotz seines Potentials für bequemes und klimafreundliches Reisen ist der Nachtzug in den europäischen Mitgliedstaaten in den letzten Jahren massiv unter Druck geraten. In Deutschland hatte sich die Deutsche Bahn AG im Jahr 2016 sogar vollständig aus dem Nachtzugverkehr mit Schlaf- und Liegewagen zurückgezogen.
Dass der Nachtzug in Europa aktuell keine signifikante Rolle spielt, ist eine Folge verfehlter Verkehrspolitik. Die politischen Rahmenbedingungen sind seit langem so ungünstig, dass die Schiene im Wettbewerb mit dem Straßen- und Luftverkehr kaum standhalten kann. Deutschland ist in diesem Bereich alles andere als ein Vorbild, was auch das Ergebnis einer Dekade ist, die von CSU-Verkehrsministern bestimmt wurde. So ist das Schienennetz in Deutschland seit der Bahnreform um 5.400 km geschrumpft. In Deutschland wird der Schienenverkehr noch immer von über 3.000 Stellwerken gesteuert, darunter einige, die seit Kaisers Zeiten ihren Dienst verrichten. Kurz gesagt: Deutschlands Schienennetz ist in einem Zustand, der nicht mithalten kann mit der Leistungsstärke und Modernität unserer Volkswirtschaft.
Die Fluggesellschaften profitieren heute von umfangreichen umweltschädlichen Subventionen, da weder das Kerosin mit einer Energiesteuer noch das Ticket im grenzüberschreitenden Verkehr mit der Mehrwertsteuer belegt ist. Einige Regionalflughäfen werden subventioniert und von 23 internationalen Flughäfen in Deutschland sind 17 defizitär. Das Geschäftsmodell der Billigflieger ist nur durch diese weitreichende Steuerbefreiung und Begünstigung möglich. Das Umweltbundesamt hat bereits 2012 ausgerechnet, dass für die umweltschädlichen Subventionen im deutschen Luftverkehr jedes Jahr knapp 12 Milliarden Euro draufgehen. Diese Subventionen verzerren den Wettbewerb unter den Verkehrsträgern sehr stark.
Dass Nachtzüge trotz widriger Umstände eine Zukunft haben und die Bahnunternehmen damit auch Geld verdienen können, beweisen die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), die seit mehr als zwei Jahren einen Großteil des zuletzt von der DB bedienten Netzes betreiben. Mit modernisiertem und neuem Wagenmaterial gewinnen die ÖBB neue Fahrgäste und weisen den Weg in die Zukunft des Nachtreiseverkehrs auf Schienen. Und auch in Schweden kommt etwas ins Rollen. Die Regierung hat beschlossen, 50 Millionen Kronen in die Hand zu nehmen, um internationale Nachtzugverbindungen von Schweden nach Deutschland auszuschreiben. Bereits vorher sind die Fahrgastzahlen in den Nachtzügen dort gestiegen, weil das Netz konsequent neu auf die Kunden ausgerichtet wurde.
Um den Nachtzug zu einer modernen und attraktiven Alternative zum innereuropäischen Flugverkehr auf Distanzen zwischen 1.000 und 2.000 Kilometern zu machen, fordern wir:
- Definition eines europäischen Nachtzugnetzes
Der Nachtzug ist ein per se europäisches Projekt und daher wollen wir auf europäischer Ebene ein Nachtzugnetz definieren, in dem grundsätzlich alle Hauptstädte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie weitere Großstädte und Ballungsräume eingebunden sind. Dieses Nachtzugnetz wollen wir schrittweise bis 2030 umsetzen. Auch die zentrale Koordination eines solchen europäischen Nachtzugnetzes muss auf EU-Ebene erfolgen. Dazu braucht es eine geeignete Institution, die die erforderlichen Kompetenzen bündelt. Mit dieser Aufgabe wollen wir die Europäische Eisenbahnagentur beauftragen.
- Nachtzüge ins Rollen bringen – Schienenmaut absenken
Nachtzugverkehr sollte aufgrund der großen Nachfrage grundsätzlich eigenwirtschaftlich sein. Gerade in der Anfangsphase müssen die Bahnunternehmen jedoch massive Investitionen in den Aufbau einer neuen Fahrzeugflotte tätigen, die den gestiegenen Ansprüchen an eine Nachtzugreise gerecht wird. Das geht nur mit klugen Anreizen und Planungssicherheit. Um den Nachtreiseverkehr auf Schienen aus der Nische zu holen, wollen wir einen Anreiz bei den Trassenpreisen („Schienenmaut“) schaffen. Für den Nachtzug sollen europaweit nicht die Vollkosten der Infrastrukturnutzung, sondern nur die Kosten der jeweiligen Fahrt in Rechnung gestellt werden. Nach dem Vorbild des Transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN‑V) soll ein Zielnetz des Nachtreiseverkehrs auf der Schiene definiert werden. Grundsätzlich soll sich das Nachtzugnetz finanziell selbst tragen. Wo dies in der Anfangsphase nicht möglich ist, ist auch die Ausschreibung von Betriebsleistungen denkbar.
- Fairen Wettbewerb herstellen – Mehrwertsteuer senken
Wer von Deutschland aus in Europa verreisen möchte und lieber den Zug nimmt statt den Flieger, wird für klimafreundliches Verhalten auch noch bestraft. Denn er zahlt häufig mehr. Ein Grund: Auf Tickets für grenzüberschreitende Flüge wird keine Mehrwertsteuer erhoben. Bei internationalen Bahnreisen wird in Deutschland die Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent aufgeschlagen. In Frankreich, Irland, Italien und 16 weiteren europäischen Mitgliedstaaten hingegen sind internationale Bahnfahrten von der Mehrwertsteuer befreit. Wenn wir die Verkehrswende wollen, müssen wir dafür sorgen, dass klimafreundliche Mobilität günstiger wird, nicht teurer. Der Nachtzug braucht faire Wettbewerbsbedingungen. Als Alternative zum Flugzeug fordern wir daher, die Mehrwertsteuer bei internationalen Nachtzügen dem europäischen Standard anzupassen.
- Bepreisung von Klimagasen – Subvention von Kerosin beenden
Während der Schienenverkehr Strom- und Ökosteuern zahlen muss, zahlen Fluggesellschaften in Deutschland keinen einzigen Cent Energiesteuern auf Kerosin. Wer faire Wettbewerbsbedingungen will, der muss die Subventionierung von Treibstoffen im europäischen Luftverkehr sowie von Regionalflughäfen schnellstmöglich beenden. Die Kosten für Klima und Umwelt gehören eingerechnet.
- Transeuropäisches Verkehrsnetz auf der Schiene ausbauen
Deutschlands Schienennetz ist auf zahlreichen Korridoren und in Knoten schon heute überlastet und muss für die notwendige Verkehrsverlagerung auf die Schiene kapazitiv massiv ausgebaut werden. Deutschland hat den Ausbau des Schienennetzes über Jahrzehnte verschlafen und damit auch den internationalen Schienenverkehr ausgebremst. Während die Schweiz pro Einwohner jährlich 362 Euro in die Schiene investiert, sind es in Deutschland gerade einmal 69 Euro. Ein Beispiel ist die grenzüberschreitend bedeutsame Oberrheinstrecke von Karlsruhe über Freiburg bis nach Basel, die Bestandteil der wichtigsten europäischen Schlagader für den internationalen Güterverkehr und damit des Transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN‑V) ist. Bereits seit 1987 laufen die Bauarbeiten im deutschen Abschnitt, aber ein Ende des Streckenausbaus vor Ende der 2030er-Jahre erscheint mittlerweile unwahrscheinlich. Die Organisation der Verkehrswende steht und fällt mit dem zügigen Kapazitätsausbau des Schienennetzes.
Bleibt es bei dem aktuell niedrigen Mitteleinsatz, würde allein die Umsetzung der beschlossenen Schienenprojekte mindestens bis 2050 dauern. Deshalb muss die Bundesregierung die Investitionen in den Neu- und Ausbau des Eisenbahnnetzes von heute 1,6 Milliarden Euro zügig auf mehr als 3 Milliarden Euro jährlich etwa verdoppeln. Nur so ist gewährleistet, dass die TEN-V-Strecken in Zukunft deutlich mehr Personen- wie Güterverkehr aufnehmen können und Verkehr auch im europäischen Maßstab verlagert werden kann.
- Schiene digitalisieren – europäische Standards umsetzen
Im Nachtzug fahren Kundinnen und Kunden – sozusagen im Schlaf – über Staatsgrenzen, ohne davon Notiz zu nehmen. Damit das trotz verschiedener Systeme tatsächlich reibungslos funktioniert, ist es entscheidend, dass auf allen Seiten der Grenzen dasselbe Zugsicherungssystem gilt, also die digitale Kommunikation zwischen Zügen, Leitstellen und Infrastruktur stimmt. Herzstück dafür ist das europäische Zugsicherungssystem ETCS. Damit ein „einheitlicher europäischer Eisenbahnraum“ bald Realität wird, muss das europäische Schienennetz in den kommenden 10 bis 15 Jahren vollständig mit ETCS ausgerüstet werden. Doch gerade Deutschland kommt hier überhaupt nicht voran. Mit den derzeit vorgesehenen Mitteln kann Deutschland noch nicht einmal die europarechtlichen Mindestverpflichtungen erfüllen und riskiert damit sogar ein EU-Vertragsverletzungsverfahren.
Wir brauchen in Deutschland wieder ein Schienennetz, das mithalten kann mit der Leistungsstärke des Wettbewerbsstandorts Deutschlands und das uns europäisch verbindet, statt uns zu isolieren. Daher müssen wir jetzt auch im Haushalt ernst machen und zwei Milliarden Euro pro Jahr in die Digitalisierung des deutschen Bahnnetzes investieren.