Neubaustrecke Wendlingen – Ulm baut Verspätungen ab

Seit dem Fahr­plan­wech­sel im Dezem­ber 2022 ist die neue Schnell­fahr­stre­cke (SFS) zwi­schen Wend­lin­gen und Ulm in Betrieb. Nach der Inbe­trieb­nah­me von Stutt­gart 21 soll zusam­men mit dem Fil­der­tun­nel aus dem neu­en Stutt­gar­ter Tief­bahn­hof zum Flug­ha­fen und der anschlie­ßen­den auto­bahn­par­al­le­len Neu­bau­stre­cke nach Wend­lin­gen eine durch­gän­gi­ge Schnell­fahr­stre­cke zwi­schen Stutt­gart und Ulm ent­ste­hen.

Seit der Inbe­trieb­nah­me der SFS zwi­schen Wend­lin­gen und Ulm nut­zen die meis­ten ICE, die auf ihrem Weg von Stutt­gart nach Ulm bis­her die Fils­tal­bahn über die Geis­lin­ger Stei­ge genutzt haben, ab Plochin­gen die Neckar-Alb-Bahn bis Wend­lin­gen, um von dort via SFS nach Ulm zu fah­ren. Hier­bei sei bemerkt, dass sich die ICE zwi­schen Stutt­gart und Wend­lin­gen die Glei­se mit zahl­rei­chen ande­ren Zügen, vor allem S‑Bahnen und Regio­nal­ver­kehr, tei­len müs­sen und dass in Plochin­gen und Wend­lin­gen jeweils niveau­gleich aus den ande­ren Stre­cken aus­ge­fä­delt wer­den muss. Die anschlie­ßen­den ers­ten Kilo­me­ter auf der Schnell­fahr­stre­cke von Wend­lin­gen kom­mend durch den Alb­vor­land­tun­nel sind nur ein­glei­sig befahr­bar. Sie­he hier­zu https://www.matthias-gastel.de/nbs-wendlingen-ulm-geht-in-betrieb/ Zudem fin­den bekannt­lich der­zeit im Groß­raum Stutt­gart zahl­rei­che Bau­maß­nah­men statt, ins­be­son­de­re zur Her­stel­lung des „Digi­ta­len Kno­ten Stutt­gart“, die die Kapa­zi­tä­ten wei­ter ein­schrän­ken.

Nun ist die Schnell­fahr­stre­cke seit mehr als einem Jahr in Betrieb. Für mich ist dies ein Grund, eine ers­te Bilanz hin­sicht­lich der Pünkt­lich­keit der Züge auf der Schnell­fahr­stre­cke und im Fils­tal zu zie­hen. Die von mir abge­frag­ten Pünkt­lich­keits­wer­te offen­ba­ren eini­ge inter­es­san­te Punk­te.

In ers­ter Linie bleibt fest­zu­hal­ten, dass der Betrieb auf der SFS sehr zuver­läs­sig läuft und sogar Ver­spä­tun­gen abge­baut wer­den kön­nen. So ist bei­spiels­wei­se die Ankunfts­pünkt­lich­keit des Fern­ver­kehrs in Wend­lin­gen aus Rich­tung Ulm höher als die dor­ti­ge Abfahrt­pünkt­lich­keit, ana­log kann der Fern­ver­kehr auch in der Gegen­rich­tung Ver­spä­tun­gen abbau­en. Auch der von Wend­lin­gen nach Ulm über die SFS fah­ren­de IRE 200 weist eine durch­weg hohe Pünkt­lich­keits­quo­te von über 90 Pro­zent auf, wobei im Gegen­satz zum Fern­ver­kehr die Ver­spä­tungs­quo­te im Fahrt­ver­lauf leicht zunimmt. Dies dürf­te sich durch den Vor­rang des Fern­ver­kehrs, das häu­fi­ge­re War­ten auf einen Gegen­zug durch den ein­glei­si­gen Betrieb durch den Alb­vor­land­tun­nel sowie ver­füg­ba­re Gleis­ka­pa­zi­tä­ten in Wend­lin­gen und Ulm erklä­ren las­sen.

Die guten Wer­te bei einer rei­nen Betrach­tung der Pünkt­lich­kei­ten auf der SFS las­sen zwei zen­tra­le Rück­schlüs­se zu: Einer­seits sind höhe­re Pünkt­lich­kei­ten und mehr Zuver­läs­sig­keit zu ver­zeich­nen, wenn schnel­le und lang­sa­me Züge von­ein­an­der getrennt wer­den. Wür­den die schnel­len ICE oder IRE zusam­men mit lang­sa­me­rem Regio­nal- oder Güter­ver­kehr auf einer dann sehr stark belas­te­ten Stre­cke fah­ren, wür­den sich die Züge durch die unter­schied­li­chen Geschwin­dig­kei­ten gegen­sei­tig stär­ker behin­dern. Durch die inzwi­schen annäh­rend glei­chen Geschwin­dig­kei­ten las­sen sich nun sowohl auf der Bestands­stre­cke als auch auf der SFS die ver­füg­ba­ren Stre­cken­ka­pa­zi­tä­ten bes­ser aus­nut­zen. Hier­bei spielt auch das auf der SFS ver­bau­te Zug­si­che­rungs­sys­tem „Euro­pean Train Con­trol Sys­tem“ (ETCS) eine zen­tra­le Rol­le. Dies führt zum zwei­ten zen­tra­len Rück­schluss nach einem Jahr Betrieb auf der SFS: Trotz oder gera­de wegen ETCS läuft der Betrieb hier zuver­läs­sig. Rund 99,8 Pro­zent der Zug­fahr­ten über die SFS ver­lie­fen in Bezug auf ETCS unauf­fäl­lig und ohne Stö­run­gen (vgl. der Eisen­bahn­in­ge­nieur 2/24, S. 53).  Ganz im Gegen­satz zum rest­li­chen Netz, wo häu­fig Ver­spä­tun­gen auf­grund von altern­den und zu häu­fig nicht funk­tio­nie­ren­den Stell­wer­ken, Wei­chen und Signa­len an der Tages­ord­nung sind, gab es zwi­schen Wend­lin­gen und Ulm kaum durch ETCS-Stö­run­gen an der Stre­cke ver­ur­sach­te Betriebs­ein­schrän­kun­gen. Auch fahr­zeug­sei­tig tra­ten nur äußerst weni­ge Stö­run­gen auf. Hier macht sich die Erfah­rung aus den Inbe­trieb­nah­men vor­an­ge­gan­ge­ner Schnell­fahr­stre­cken bemerk­bar, bei denen bereits viel an der Zuver­läs­sig­keit der ETCS-Aus­stat­tung ver­bes­sert wer­den konn­te.

Erwei­tert man den Blick auf die Pünkt­lich­kei­ten jedoch auf die Gesamt­stre­cke zwi­schen Stutt­gart und Ulm, so offen­bar­ten sich lei­der wie­der die gesam­ten Pro­ble­ma­ti­ken des deut­schen Schie­nen­net­zes:

Durch die län­ge­ren Zug­läu­fe im Fern­ver­kehr wirkt sich die bekann­ter­ma­ßen deutsch­land­weit schlech­te Pünkt­lich­keit auch auf den Abschnitt zwi­schen Stutt­gart und Ulm aus. Dadurch sind auch zwi­schen Stutt­gart und Ulm die Pünkt­lich­keits­wer­te des Fern­ver­kehrs ins­ge­samt betrach­tet nicht son­der­lich gut. Wenn ein Zug zu spät in Stutt­gart ankommt, kann die­ser dort auch nicht pünkt­lich abfah­ren und die ein­ge­schlepp­te Ver­spä­tung hält sich wäh­rend der Fahrt ab Stutt­gart wei­ter­hin.

So ver­ließ nur rund jeder zwei­te ICE Stutt­gart pünkt­lich gen Ulm, wo dann, trotz SFS, noch weni­ger Züge pünkt­lich anka­men. In der Gegen­rich­tung ist ein noch deut­li­che­rer Ver­spä­tungs­auf­bau auf der Fahrt von Ulm nach Stutt­gart erkenn­bar. Weni­ger als 60 Pro­zent der ankom­men­den Züge waren bei der Ankunft in Stutt­gart pünkt­lich, wohin­ge­gen die Abfahrt­pünkt­lich­keits­quo­te in Ulm bei über 70 Pro­zent liegt. Da der Betrieb auf der SFS sehr gut läuft, wer­fen die­se Ver­spä­tungs­zu­nah­men kein gutes Licht auf den Stre­cken­ab­schnitt zwi­schen Stutt­gart, Plochin­gen und Wend­lin­gen. Hier wer­den also in bei­den Fahrt­rich­tun­gen mehr Ver­spä­tun­gen auf­ge­baut, als auf der SFS abge­baut wer­den kön­nen. So neh­men die Ver­spä­tun­gen zwi­schen Ulm und Stutt­gart ins­ge­samt zu. Ein ähn­li­ches Bild ist auch beim Nah- und Regio­nal­ver­kehr zwi­schen Stutt­gart und Ulm zu ver­zeich­nen. Auch hier fin­det eine deut­li­che Ver­spä­tungs­zu­nah­me auf der Fahrt von Ulm nach Stutt­gart statt, wäh­rend sich das Pünkt­lich­keits­ni­veau des Nah­ver­kehrs ansons­ten etwa auf dem Vor-Coro­na-Niveau von über 80 Pro­zent bewegt. Auch hier lässt sich die Ver­spä­tungs­zu­nah­me, die eben­falls höher aus­fällt als vor Coro­na, mit durch den hoch belas­te­ten Stre­cken­ab­schnitt zwi­schen Plochin­gen und Stutt­gart sowie der star­ken Bau­stel­len­tä­tig­keit der letz­ten bei­den Jah­re im Groß­raum Stutt­gart erklä­ren. Ver­gli­chen mit dem Vor-Coro­na-Niveau bleibt aller­dings fest­zu­hal­ten, dass sich die Pünkt­lich­keit des Nah­ver­kehrs auf der Fils­tal­bahn ansons­ten nicht signi­fi­kant ver­bes­sert hat, obwohl zahl­rei­che ICE nicht mehr den Weg durch das Fils­tal neh­men.

Noch schlech­ter ist die Pünkt­lich­keit des Güter­ver­kehrs auf der Fils­tal­bahn. Nur rund die Hälf­te der Güter­zü­ge auf der Fils­tal­bahn fah­ren pünkt­lich, Ten­denz der ver­gan­ge­nen Jah­re gleich blei­bend. Auch hier machen sich aber auch wie­der netz­wei­te Effek­te und die ohne­hin schlech­te Pünkt­lich­keit des Güter­ver­kehrs in Deutsch­land bemerk­bar. Bei Bau­maß­nah­men, Umlei­tun­gen oder Stre­cken­sper­run­gen ist immer der Güter­ver­kehr als ers­tes betrof­fen.

Ins­ge­samt zei­gen die von mir abge­frag­ten Pünkt­lich­keits­wer­te also vor allem, dass der Betrieb auf der SFS zwi­schen Wend­lin­gen und Ulm mit und dank ETCS sehr zuver­läs­sig läuft und Ver­spä­tun­gen abge­baut wer­den kön­nen. Fah­ren schnel­le Züge auf sepa­ra­ten Stre­cken, kön­nen die Kapa­zi­tä­ten des Schie­nen­net­zes weit­aus bes­ser genutzt wer­den, gera­de in Kom­bi­na­ti­on mit einem zuver­läs­sig funk­tio­nie­ren­den ETCS. Die durch die Über­las­tung des Deut­schen Schie­nen­net­zes ein­ge­schlepp­ten Ver­spä­tun­gen im Fern- und Güter­ver­kehr zei­gen jedoch auch: Es braucht mehr neue Stre­cken und mehr moder­ne Bahn­tech­nik in ganz Deutsch­land. Nur wenn ein zuver­läs­si­ger Betrieb flä­chen­de­ckend mög­lich ist, fah­ren die Züge in ganz Deutsch­land pünkt­lich.