Minderheitsregierung keine bessere Alternative
Die Sondierungsgespräche, um die Chancen einer Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen auszuloten, sind gescheitert. Ich bedaure dies sehr. Nun befindet sich Deutschland zwar nicht in einer Staatskrise, aber doch vor schwierigen Wochen und Monaten. Die politische Handlungsfähigkeit ist mit einer nur geschäftsführenden Bundesregierung und unklaren parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen erheblich eingeschränkt. Zahlreiche wichtige Entscheidungen innenpolitischer und außenpolitischer Natur können nicht getroffen werden. Konkret heißt das, dass die Ministerien ab dem 1. Januar nur noch auf der Grundlage einer vorläufigen Haushaltsführung arbeiten dürfen. So dürfen beispielsweise in der Verkehrspolitik zwar begonnene Vorhaben noch fortgeführt werden, der Beginn dringend notwendiger neuer Projekte ist jedoch vom Haushaltsrecht untersagt. Konkretes Beispiel: Die bei den Diesel- und Kommunalgipfeln zugesagten Bundesmittel für Maßnahmen zur Luftreinhaltung in den Städten können nicht bereitgestellt werden. Fahrverbote in zahlreichen Städten werden auch dadurch immer wahrscheinlicher. Gerade weil das Jahr 2018 vor der Tür steht, geht uns mit dem überraschenden Abgang der FDP jetzt viel politisch wertvolle Zeit verloren.
Jenen Bürgerinnen und Bürger, die in den ersten Wochen nach der Bundestagswahl und während der schleppend laufenden Sondierungsgespräche Neuwahlen forderten, hatte ich noch geantwortet:
„Unser Ziel ist die Bildung einer stabilen Bundesregierung, die von einer parlamentarischen Mehrheit gestützt wird. Daher sprechen wir auch nicht von Neuwahlen. Das wäre unverantwortlich, denn die Bürgerinnen und Bürger haben gewählt und es liegt nun in der Verantwortung der Parteien aus den gegebenen Mehrheitsverhältnissen eine Regierung zu bilden. Wir nehmen das Wahlergebnis sehr ernst, sind uns unserer Verantwortung bewusst und erkennen an, dass eine mögliche Jamaika-Koalition eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz genießt.“
Wir Grüne haben sehr viel Zeit und Energie in die Vorbereitung, die Durchführung und die fachliche Begleitung der Gespräche investiert. Wir haben uns frühzeitig mit den inhaltlichen Vorstellungen der anderen Parteien auseinandergesetzt, Gemeinsamkeiten gesucht und versucht, Differenzen zu überwinden. Wir Grüne haben viele, für unsere Mitglieder und Wähler*innen häufig schmerzhafte, Kompromissangebote und Zugeständnisse gemacht. So haben wir die Jahreszahlen in unseren Forderungen für das Ende der Neuzulassungen fossiler Verbrennerfahrzeuge ebenso gestrichen wie beim Kohleausstieg. Uns war aber nach wie vor wichtig, dass die Richtung weg von Status Quo der Großen Koalition stimmt und der Klimavertrag von Paris mitsamt seiner Zwischenziele eingehalten wird. Bei den Wegen dorthin haben wir uns jedoch flexibel gezeigt. Wir haben unsere Forderung nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer mit Blick auf die Programmatiken der anderen drei potentiellen Koalitionspartner nicht weiter verfolgt. Der Forderung der FDP nach der Abschaffung des Solis haben wir, obwohl wir andere Vorstellungen von Entlastungen der Bürger*innen haben, zugestimmt. Der Soli wäre entsprechend der Finanzierbarkeit in mehreren Schritten abgesenkt und in der nächsten Legislaturperiode schließlich ganz abgeschafft worden. Sogar bei der Flüchtlingspolitik stand am Sonntag des letzten Sondierungswochenendes eine Verständigung mit den Unionsparteien vor dem Abschluss.
Nun müssen wir feststellen, dass die Bemühungen, die Bildung einer Jamaika-Koalition konkret auszuloten, daran gescheitert sind, dass sich die FDP von den laufenden Gesprächen davongestohlen hat und sich damit ihrer Mitverantwortung für die Bildung einer handlungsfähigen Regierung entzogen hat. Damit ist die alte, gescheiterte FDP zurück; die Klientelpartei ohne Sinn für gesamtgesellschaftliche Belange. Sie hat in ihrer Erklärung am Sonntagabend zu ihrem einseitigen Abbruch der Gespräche keine inhaltlichen Gründe geltend gemacht. Die Generalsekretärin der Bundes-FDP hatte noch wenige Stunden zuvor in den Tagesthemen zum Sondierungsstand erklärt: „Unsere Forderungen werden dort zu einem Großteil abgebildet“.
Wir Grüne bleiben gesprächsbereit. Für uns ist Jamaika wegen der Verweigerung der FDP zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich geworden.
Zur weiteren Gesprächsverweigerung der FDP die Erklärung unseres Fraktionsvorsitzenden Dr. Anton Hofreiter:
„Die FDP stiehlt sich aus der Verantwortung
(…) Wir sind enttäuscht, dass es nicht gelungen ist, diese Sondierungsgespräche zu einem guten Ende zu bringen. Mir ist es rätselhaft, wie die FDP begründen will, dass sie nicht dabei ist. Aussagen wie bei Digitalisierung oder Entlastung der Bürger wäre keine Einigung möglich gewesen, sind schlichtweg falsch. Es gab sehr gute, auch geeinte Vorschläge zur Digitalisierung und im Bildungsbereich. Es lag das Angebot auf dem Tisch, den Soli nach und nach nicht in einer Legislatur, das wäre nicht finanziell darstellbar gewesen, aber in zwei Legislaturen komplett abzuschaffen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die FDP Partnerinnen oder Partner finden will, mit denen mehr möglich ist. Deshalb: Es gab in diesen Punkten keine inhaltliche Begründung.
Diese Regierung hätte in einem in Teilen gespaltenen Land große Versöhnungen zustande bringen können. Bei dem schwierigen Thema Migration und Flucht deutete sich an, dass ein großer Kompromiss von CSU bis zu den Grünen, von Claudia Roth bis Alexander Dobrindt, möglich gewesen wäre. Dieser Kompromiss hätte diesem Land wirklich gutgetan.
Diese unverantwortliche Aktion reißt die alte Wunde wieder stärker auf. Wir werden weiter dafür werben, dass eine Regierung zustande kommt. Herr Steinmeier hat in seinen Aussagen absolut Recht, dass alle Parteien und alle handelnden Personen verantwortungsvoll mit dem Ergebnis umgehen müssen. Wenn es zu weiteren Gesprächen kommt, sind wir gesprächsbereit, um in wichtigen Dingen etwas für dieses Land voranzubringen, wie Positionen bei der Frage Migration und Flucht zu versöhnen, wie etwas für den Klimaschutz zu tun, wie etwas zur Bekämpfung von Fluchtursachen zu tun, wie dafür zu sorgen, dass die Europäische Union wieder stärker zusammenhält oder dass keine Waffen mehr nach Saudi-Arabien in einen brutalen Krieg exportiert werden. All das bis zur Abschaffung der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung kommt jetzt erst mal nicht. Wir werden weiter dafür werben, dass diese Dinge kommen.“
Gegenüber der Lokalpresse in meinem Wahlkreis habe ich mich wie folgt zum Scheitern der Sondierungsgespräche geäußert:
„Ein Jamaika-Bündnis war für keinen der Beteiligten die Wunschkonstellation. Wir Grüne haben uns dennoch sehr ernsthaft auf die Gespräche eingelassen. Wir haben bis zur letzten Minute konstruktiv daran gearbeitet, dass sie erfolgreich abgeschlossen werden und es zu einer stabilen Regierung kommt. Dafür haben wir mit eigenen Kompromissangeboten in der Energie‑, Verkehrs- und Flüchtlingspolitik Bewegung in die zwischenzeitlich erstarrten Gespräche gebracht. Eine Einigung bei diesen Themen wäre schwierig, vermutlich aber möglich gewesen. Gescheitert ist ein solches Jamaika-Bündnis jedoch an einer verantwortungslos und rein parteitaktisch agierenden FDP. Der FDP hatten von Anfang an die Ernsthaftigkeit und der gute Wille zu einem Gelingen gefehlt.“
Minderheitsregierung?
Häufig wird eine Minderheitsregierung in die Diskussion gebracht. Kaum jemand äußert sich hingegen zu der damit verbundenen Frage, wer diese stellen und wer eine solche (aus welchen Gründen) tolerieren sollte.
Weshalb sollten wir eine Person zur Kanzlerin oder zum Kanzler wählen, ohne dass in einem Vertrag verlässlich festgehalten werden kann, welche Inhalte damit verbunden werden? Weshalb sollten wir eine Regierung stützen, deren Teil wir nicht sind und es uns aufgrund dessen nicht möglich ist, Regierungshandeln, Ziele und Themensetzungen vorhersehbar mitzubestimmen? Was soll von einer Regierung zu halten sein, die für „populäre“ Entscheidungen jederzeit eine breite Mehrheit im Parlament finden wird, nicht aber unbedingt für „unpopuläre“, aber notwendige Entscheidungen?
Das Finden von Mehrheiten ist angesichts der hohen Entscheidungsdichte auf Bundesebene mit einer Minderheitsregierung so mühsam und aufwändig, dass die Handlungs- und Leistungsfähigkeit der Regierung deutlich eingeschränkt wäre.
Eine Minderheitsregierung würde mit größter Wahrscheinlichkeit keine vier Jahre Bestand haben. Alle Beteiligten würden vielmehr auf ihre Umfragewerte schauen und den günstigen Moment abwarten, um Neuwahlen zu erzwingen. Sind also Neuwahlen so schnell wie möglich nicht der ehrlichere Weg, um eine lähmende Hängepartie zu vermeiden?
Besser wäre es jedoch, SPD und FDP würden sich ihrer Verantwortung fürs Land bewusst werden und ihre Verweigerungshaltung gegen eine auf vier Jahre angelegte, stabile Regierungskoalition ablegen.
Rasche Neuwahlen in die Wege leiten
Erst hat die SPD erklärt, sich auf keine Neuauflage der Großen Koalition einzulassen. Dann hat die FDP die Gespräche über die mögliche Bildung einer Jamaika-Koalition verlassen. Die Bildung einer Minderheitsregierung halte ich aus den genannten Gründen für unwahrscheinlich und selbst wenn es dazu käme, wären Neuwahlen noch weit vor dem eigentlichen Ende der Legislaturperiode höchst wahrscheinlich. Damit läuft es ohnehin auf Neuwahlen hinaus. Diese können jedoch kein Ziel sein. Besser wäre nach wie vor eine Jamaika-Koalition und neben der FDP sollte auch die SPD noch einmal intensiv darüber nachdenken, ob sie nicht doch regierungsbereit ist.
Wenn sich die beiden Parteien weiter verweigern ist die Neuwahl des Bundestages die beste der schlechten Alternativen. Aus meiner Sicht kommen diese besser so schnell wie möglich als erst zu einem Zeitpunkt, den eine der Fraktionen aus rein opportunistischen Gründen in Abhängigkeit von Wahlumfragen erzwingt. Neuwahlen sind nach allem, was wir wissen, auch im Sinne einer Mehrheit der Bürger*innen: Beim ZDF-Politbarometer sprachen sich 51 Prozent und beim ARD-Deutschlandtrend 63 Prozent (jeweils am 20.11.2017) dafür aus.
Ich bin einigermaßen zuversichtlich, dass sich durch Neuwahlen handlungsfähige Mehrheiten ergeben werden. Denn die Menschen in Deutschland wissen nun, wer bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und wer sich davor drückt.
Die Menschen wissen nach den Sondierungswochen aber auch deutlicher denn je, wer für welche Positionen steht. Sie wissen, wer an den Klimaschutzverpflichtungen festhält und wer daran rüttelt. Sie wissen, wer mit dem Kohleausstieg einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leisten und wer ihn verschleppen will. Sie wissen, wer für eine menschliche Flüchtlingspolitik mit dem Recht auf Familienzusammenführung steht und wer für einen harten Kurs plädiert, der Integration unnötig erschwert. Die gescheiterten Jamaika-Gespräche haben gezeigt, wie groß die Unterschiede allein schon zwischen den vier beteiligten Parteien sind und dass wir in Deutschland weit entfernt von einem von der AfD immer wieder herbeigeredeten „Parteienkartell“ sind.