Deutschland erfüllt seine Pflichten nicht
Die europäische Kommission und das Europaparlament haben 2021 zum “Europäischen Jahr der Schiene” ausgerufen. Für die Stärkung des Schienenverkehrs in Europa trägt Deutschland als Verkehrsdrehscheibe im Herzen des Kontinents große Verantwortung. Mit neun direkten Nachbarn muss Deutschland den Ausbau grenzüberschreitender Eisenbahninfrastruktur abstimmen. Zum Sachstand der teilweise schon vor Dekaden vereinbarten Aus- und Neubauvorhaben erklärt Matthias Gastel, Sprecher für Bahnpolitik der Grünen-Bundestagsfraktion:
„Als Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im Spätsommer vergangenen Jahres für den Aufbau eines neuen Trans-Europ-Express-Netzes warb, konnte man fast den Eindruck gewinnen, die Bundesregierung will beim Schienenverkehr in Europa richtig Dampf machen. Leider ist das Konzept ‚TEE 2.0‘ offenbar genauso in der Schublade verschwunden wie die Verträge zum Ausbau grenzüberschreitender Eisenbahnstrecken, die Deutschland über die Jahrzehnte mit seinen Nachbarländern abgeschlossen hat. Zahleiche Bahnprojekte haben sich auf deutscher Seite zu einer unendlichen Geschichte entwickelt, während unsere europäischen Nachbarn ihre Verpflichtungen bereits vorzeitig erfüllt haben.
Während nach Polen und Tschechien seit dem EU-Beitritt beider Länder vor allem neue Autobahnen in Betrieb gingen, wartet die Bahninfrastruktur an vielen Stellen auf einen zeitgemäßen Ausbau. Erst im Oktober 2018 nahm die Deutsche Bahn die zweigleisig ausgebaute und elektrifizierte „Niederschlesische Gütermagistrale“ in Betrieb. Nach dem Bahngrenzübergang bei Frankfurt (Oder) ist dies erst die zweite elektrifizierte Hauptbahn zwischen Deutschland und Polen. Bereits seit 2006 hing der Fahrdraht auf polnischer Seite bis zur Neißebrücke; 12 Jahre später fand er auf deutscher Seite endlich seine Fortsetzung.
Eine ähnliche Hängepartie droht auf der Strecke Dresden – Görlitz – Wrocław. Ende 2019 schloss die polnische Bahn die Elektrifizierungslücke auf dieser Hauptstrecke, so dass auch hier die Elektrifizierung unmittelbar an der Neißebrücke stumpf endet. Auf deutsche Seite läuft immerhin die Planung, doch vor 2028 ist an durchgehenden elektrischen Betrieb nicht zu denken. Wenn es dabei bleibt, sind am Ende seit dem Vertragsschluss mit Polen 25 Jahre vergangen und Deutschland liegt gegenüber der polnischen Seite fast eine Dekade zurück.
Noch weniger Fortschritte seit 1990 zeigen sich beim Schienenverkehr zwischen Deutschland und Tschechien. Lediglich die Elbtalstrecke wurde als einzige Eisenbahnstrecke zwischen Deutschland und Tschechien noch zu Staatsbahnzeiten elektrifiziert und weist Fernverkehr auf. Doch der 1995 mit Tschechien vereinbarte Ausbau der Strecken Berlin – Dresden auf weitgehend 200 km/h ist auch ein Vierteljahrhundert später nicht abgeschlossen. Bis heute erreichten die Fernverkehrszüge zwischen Spree und Elbe noch nicht einmal die Vorkriegsfahrzeiten. Erst in acht Jahren kann Deutschland hier Vollzug melden und die Fahrzeiten der 1930er-Jahre unterbieten – sofern nichts mehr dazwischenkommt.
Auf der traditionellen Verbindung Frankfurt – Nürnberg – Prag stellte die Deutsche Bahn bereits 2003 den Fernverkehr ein. Stattdessen verlagerte die DB 2009 den Fernverkehr mit dem IC-Bus endgültig auf die Straße, der dank neuer Autobahnen Prag schneller erreichte als der frühere EuroCity. Doch seit Dezember 2020 ist auch dieses Kapitel schon wieder Verkehrsgeschichte. Zwar hat Deutschland 1998 die Elektrifizierung der Strecke Nürnberg – Marktredwitz – Bundesgrenze vereinbart, doch bis heute „dieselt“ es auf der Pegnitztalstrecke. Erst 2028 – und damit 30 Jahre nach der Vereinbarung mit Tschechien – sollen zwischen Nürnberg und Prag die Dieselloks abgelöst werden. Erst dann gibt es Hoffnung auf die Wiederbelebung des Fernverkehrs auf dieser wichtigen Strecke.
Am weitesten ist der Rückstand beim Ausbau der grenzüberschreitenden Eisenbahninfrastruktur zum „Bahnland“ Schweiz. Bereits 1996 schlossen Eidgenossen und Deutsche den Vertrag von Lugano ab, der unter anderem den viergleisigen Ausbau der Oberrheinstrecke vorsieht. Zwar startete noch die Deutsche Bundesbahn hier 1987 das Großprojekt, doch das Vorhaben kam zu Beginn des neuen Jahrtausends ins Stocken. Zwischenzeitlich baute die Schweiz ab 1999 die so genannte Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) mit drei großen Basistunnel. Für rund 23 Milliarden Franken und innerhalb von zwei Dekaden haben die Schweizer damit die Voraussetzungen für die weitgehende Verkehrsverlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene geschaffen. Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2020 ging mit dem Ceneri-Basistunnel die letzte wichtige Etappe in Betrieb.
Der Aus- und Neubau der Oberrheinstrecke wird sich dagegen bis weit in die 2030er-Jahre hinziehen. Der Projektabschluss wird derzeit auf 2041 terminiert – 45 Jahre nach Abschluss des Vertrags von Lugano.
Auch die Nachbarn westlich des Rheins haben gute Erfahrungen mit Bahngroßprojekten gesammelt. Frankreich kam seinen Verpflichtungen des Vertrags von La Rochelle aus dem Jahr 1992 nach und stampfte bis 2016 insgesamt 406 Kilometer Hochgeschwindigkeitsstrecke aus dem Boden und investierte dafür 5,3 Milliarden Euro. Die Fahrzeit Paris – Straßburg schrumpfte auf eine Stunde und 45 Minuten.
Östlich des Rheins blieb es bei Ausbaustrecken, so dass die ursprünglich angestrebte Fahrzeit Paris – Frankfurt von etwa 3,5 Stunden nicht erreicht werden kann. Zwar ist die Ausbaustrecke Mannheim – Saarbrücken im Wesentlichen fertiggestellt. Doch bis zur Vollendung fehlt noch das europäische Zugsicherungssystem ETCS, das erst 2025 den Schlussstein des Projekts bildet.
Die Parole ‚Güter auf die Schiene‘ schmückt viele verkehrspolitische Sonntagsreden. Die Niederländer bauten für den Güterverkehr zum Hafen Rotterdam zwischen 1998 und 2007 eigens eine Neubaustrecke für insgesamt 4,7 Milliarden Euro. Doch bis heute wartet die Betuweroute an der niederländisch-deutschen Grenze auf Anschluss in Deutschland. Erst 2006 schlossen Bund und Deutsche Bahn eine Planungsvereinbarung zum dreigleisigen Ausbau der Strecke Oberhausen – Emmerich – Bundesgrenze. Es gibt Zweifel, ob die Kapazität einer dreigleisigen Strecke langfristig ausreichen wird. Bis heute besteht nur in fünf von 12 Planfeststellungsabschnitten Baurecht. Wenn alles gut geht, dann ist der Ausbau der Strecke 2028 vollendet. Damit hätte Deutschland dann 21 Jahre Verspätung.
Fazit: Deutschland hat beim Ausbau der grenzüberschreitenden Eisenbahninfrastruktur ein erhebliches Erfüllungsdefizit. Teilweise erfüllen wir seit Jahrzehnten unsere vertraglichen Pflichten zum Ausbau europäischer Bahnstrecken nur sehr unzureichend. Damit werden wir unserer zentralen Rolle als Verkehrsdrehscheibe im Herzen Europas nicht gerecht. Vor dem Hintergrund der notwendigen Verkehrsverlagerung im Personen- und Güterverkehr kommt dem Infrastrukturausbau im Schienennetz eine überragende Rolle bei der Verkehrswende zu. Die Bundesregierung muss beim Ausbau der Eisenbahnstrecken zu unseren Nachbarn endlich Dampf machen. Dazu müssen Planungsaktivitäten beschleunigt und mehr Geld bereitgestellt werden. Die Mittel für den Neu- und Ausbau müssen schnell von jetzt rund 1,5 Milliarden Euro auf 3 Milliarden Euro jährlich verdoppelt und in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre weiter erhöht werden. Neben der Beseitigung von Engpässen müssen Projekte, die der europäischen Integration dienen, die höchste Priorität erhalten. Der teilweise jahrzehntelange Rückstand gegenüber unseren Nachbarn ist nicht nur blamabel, sondern vor dem Hintergrund Deutschlands Rolle in Europa auch verantwortungslos.“