(Nicht-)Ausbau grenzüberschreitender Bahnstrecken

Hinweis: Dieser Beitrag ist schon älter und wurde möglicherweise noch nicht in das neue Format umgewandelt.

19.03.2021

Deutschland erfüllt seine Pflichten nicht

Die euro­päi­sche Kom­mis­si­on und das Euro­pa­par­la­ment haben 2021 zum “Euro­päi­schen Jahr der Schie­ne” aus­ge­ru­fen. Für die Stär­kung des Schie­nen­ver­kehrs in Euro­pa trägt Deutsch­land als Ver­kehrs­dreh­schei­be im Her­zen des Kon­ti­nents gro­ße Ver­ant­wor­tung. Mit neun direk­ten Nach­barn muss Deutsch­land den Aus­bau grenz­über­schrei­ten­der Eisen­bahn­in­fra­struk­tur abstim­men. Zum Sach­stand der teil­wei­se schon vor Deka­den ver­ein­bar­ten Aus- und Neu­bau­vor­ha­ben erklärt Mat­thi­as Gastel, Spre­cher für Bahn­po­li­tik der Grü­nen-Bun­des­tags­frak­ti­on:

„Als Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­ter Andre­as Scheu­er im Spät­som­mer ver­gan­ge­nen Jah­res für den Auf­bau eines neu­en Trans-Europ-Express-Net­zes warb, konn­te man fast den Ein­druck gewin­nen, die Bun­des­re­gie­rung will beim Schie­nen­ver­kehr in Euro­pa rich­tig Dampf machen. Lei­der ist das Kon­zept ‚TEE 2.0‘ offen­bar genau­so in der Schub­la­de ver­schwun­den wie die Ver­trä­ge zum Aus­bau grenz­über­schrei­ten­der Eisen­bahn­stre­cken, die Deutsch­land über die Jahr­zehn­te mit sei­nen Nach­bar­län­dern abge­schlos­sen hat. Zahl­ei­che Bahn­pro­jek­te haben sich auf deut­scher Sei­te zu einer unend­li­chen Geschich­te ent­wi­ckelt, wäh­rend unse­re euro­päi­schen Nach­barn ihre Ver­pflich­tun­gen bereits vor­zei­tig erfüllt haben.

Wäh­rend nach Polen und Tsche­chi­en seit dem EU-Bei­tritt bei­der Län­der vor allem neue Auto­bah­nen in Betrieb gin­gen, war­tet die Bahn­in­fra­struk­tur an vie­len Stel­len auf einen zeit­ge­mä­ßen Aus­bau. Erst im Okto­ber 2018 nahm die Deut­sche Bahn die zwei­glei­sig aus­ge­bau­te und elek­tri­fi­zier­te „Nie­der­schle­si­sche Güter­ma­gis­tra­le“ in Betrieb. Nach dem Bahn­grenz­über­gang bei Frank­furt (Oder) ist dies erst die zwei­te elek­tri­fi­zier­te Haupt­bahn zwi­schen Deutsch­land und Polen. Bereits seit 2006 hing der Fahr­draht auf pol­ni­scher Sei­te bis zur Nei­ße­brü­cke; 12 Jah­re spä­ter fand er auf deut­scher Sei­te end­lich sei­ne Fort­set­zung.

Eine ähn­li­che Hän­ge­par­tie droht auf der Stre­cke Dres­den – Gör­litz – Wro­cław. Ende 2019 schloss die pol­ni­sche Bahn die Elek­tri­fi­zie­rungs­lü­cke auf die­ser Haupt­stre­cke, so dass auch hier die Elek­tri­fi­zie­rung unmit­tel­bar an der Nei­ße­brü­cke stumpf endet. Auf deut­sche Sei­te läuft immer­hin die Pla­nung, doch vor 2028 ist an durch­ge­hen­den elek­tri­schen Betrieb nicht zu den­ken. Wenn es dabei bleibt, sind am Ende seit dem Ver­trags­schluss mit Polen 25 Jah­re ver­gan­gen und Deutsch­land liegt gegen­über der pol­ni­schen Sei­te fast eine Deka­de zurück.

Noch weni­ger Fort­schrit­te seit 1990 zei­gen sich beim Schie­nen­ver­kehr zwi­schen Deutsch­land und Tsche­chi­en. Ledig­lich die Elb­tal­stre­cke wur­de als ein­zi­ge Eisen­bahn­stre­cke zwi­schen Deutsch­land und Tsche­chi­en noch zu Staats­bahn­zei­ten elek­tri­fi­ziert und weist Fern­ver­kehr auf. Doch der 1995 mit Tsche­chi­en ver­ein­bar­te Aus­bau der Stre­cken Ber­lin – Dres­den auf weit­ge­hend 200 km/h ist auch ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter nicht abge­schlos­sen. Bis heu­te erreich­ten die Fern­ver­kehrs­zü­ge zwi­schen Spree und Elbe noch nicht ein­mal die Vor­kriegs­fahr­zei­ten. Erst in acht Jah­ren kann Deutsch­land hier Voll­zug mel­den und die Fahr­zei­ten der 1930er-Jah­re unter­bie­ten – sofern nichts mehr dazwi­schen­kommt.

Auf der tra­di­tio­nel­len Ver­bin­dung Frank­furt – Nürn­berg – Prag stell­te die Deut­sche Bahn bereits 2003 den Fern­ver­kehr ein. Statt­des­sen ver­la­ger­te die DB 2009 den Fern­ver­kehr mit dem IC-Bus end­gül­tig auf die Stra­ße, der dank neu­er Auto­bah­nen Prag schnel­ler erreich­te als der frü­he­re Euro­Ci­ty. Doch seit Dezem­ber 2020 ist auch die­ses Kapi­tel schon wie­der Ver­kehrs­ge­schich­te. Zwar hat Deutsch­land 1998 die Elek­tri­fi­zie­rung der Stre­cke Nürn­berg – Markt­red­witz – Bun­des­gren­ze ver­ein­bart, doch bis heu­te „die­selt“ es auf der Peg­nitz­tal­stre­cke. Erst 2028 – und damit 30 Jah­re nach der Ver­ein­ba­rung mit Tsche­chi­en – sol­len zwi­schen Nürn­berg und Prag die Die­sel­loks abge­löst wer­den. Erst dann gibt es Hoff­nung auf die Wie­der­be­le­bung des Fern­ver­kehrs auf die­ser wich­ti­gen Stre­cke.

Am wei­tes­ten ist der Rück­stand beim Aus­bau der grenz­über­schrei­ten­den Eisen­bahn­in­fra­struk­tur zum „Bahn­land“ Schweiz. Bereits 1996 schlos­sen Eid­ge­nos­sen und Deut­sche den Ver­trag von Luga­no ab, der unter ande­rem den vier­glei­si­gen Aus­bau der Ober­rhein­stre­cke vor­sieht. Zwar star­te­te noch die Deut­sche Bun­des­bahn hier 1987 das Groß­pro­jekt, doch das Vor­ha­ben kam zu Beginn des neu­en Jahr­tau­sends ins Sto­cken. Zwi­schen­zeit­lich bau­te die Schweiz ab 1999 die so genann­te Neue Eisen­bahn-Alpen­trans­ver­sa­le (NEAT) mit drei gro­ßen Basis­tun­nel. Für rund 23 Mil­li­ar­den Fran­ken und inner­halb von zwei Deka­den haben die Schwei­zer damit die Vor­aus­set­zun­gen für die weit­ge­hen­de Ver­kehrs­ver­la­ge­rung des Güter­ver­kehrs auf die Schie­ne geschaf­fen. Zum Fahr­plan­wech­sel im Dezem­ber 2020 ging mit dem Ceneri-Basis­tun­nel die letz­te wich­ti­ge Etap­pe in Betrieb.

Der Aus- und Neu­bau der Ober­rhein­stre­cke wird sich dage­gen bis weit in die 2030er-Jah­re hin­zie­hen. Der Pro­jekt­ab­schluss wird der­zeit auf 2041 ter­mi­niert – 45 Jah­re nach Abschluss des Ver­trags von Luga­no.

Auch die Nach­barn west­lich des Rheins haben gute Erfah­run­gen mit Bahn­groß­pro­jek­ten gesam­melt. Frank­reich kam sei­nen Ver­pflich­tun­gen des Ver­trags von La Rochel­le aus dem Jahr 1992 nach und stampf­te bis 2016 ins­ge­samt 406 Kilo­me­ter Hoch­ge­schwin­dig­keits­stre­cke aus dem Boden und inves­tier­te dafür 5,3 Mil­li­ar­den Euro. Die Fahr­zeit Paris – Straß­burg schrumpf­te auf eine Stun­de und 45 Minu­ten.

Öst­lich des Rheins blieb es bei Aus­bau­stre­cken, so dass die ursprüng­lich ange­streb­te Fahr­zeit Paris – Frank­furt von etwa 3,5 Stun­den nicht erreicht wer­den kann. Zwar ist die Aus­bau­stre­cke Mann­heim – Saar­brü­cken im Wesent­li­chen fer­tig­ge­stellt. Doch bis zur Voll­endung fehlt noch das euro­päi­sche Zug­si­che­rungs­sys­tem ETCS, das erst 2025 den Schluss­stein des Pro­jekts bil­det.

Die Paro­le ‚Güter auf die Schie­ne‘ schmückt vie­le ver­kehrs­po­li­ti­sche Sonn­tags­re­den. Die Nie­der­län­der bau­ten für den Güter­ver­kehr zum Hafen Rot­ter­dam zwi­schen 1998 und 2007 eigens eine Neu­bau­stre­cke für ins­ge­samt 4,7 Mil­li­ar­den Euro. Doch bis heu­te war­tet die Betu­we­r­ou­te an der nie­der­län­disch-deut­schen Gren­ze auf Anschluss in Deutsch­land. Erst 2006 schlos­sen Bund und Deut­sche Bahn eine Pla­nungs­ver­ein­ba­rung zum drei­glei­si­gen Aus­bau der Stre­cke Ober­hau­sen – Emme­rich – Bun­des­gren­ze. Es gibt Zwei­fel, ob die Kapa­zi­tät einer drei­glei­si­gen Stre­cke lang­fris­tig aus­rei­chen wird. Bis heu­te besteht nur in fünf von 12 Plan­fest­stel­lungs­ab­schnit­ten Bau­recht. Wenn alles gut geht, dann ist der Aus­bau der Stre­cke 2028 voll­endet. Damit hät­te Deutsch­land dann 21 Jah­re Ver­spä­tung.

Fazit: Deutsch­land hat beim Aus­bau der grenz­über­schrei­ten­den Eisen­bahn­in­fra­struk­tur ein erheb­li­ches Erfül­lungs­de­fi­zit. Teil­wei­se erfül­len wir seit Jahr­zehn­ten unse­re ver­trag­li­chen Pflich­ten zum Aus­bau euro­päi­scher Bahn­stre­cken nur sehr unzu­rei­chend. Damit wer­den wir unse­rer zen­tra­len Rol­le als Ver­kehrs­dreh­schei­be im Her­zen Euro­pas nicht gerecht. Vor dem Hin­ter­grund der not­wen­di­gen Ver­kehrs­ver­la­ge­rung im Per­so­nen- und Güter­ver­kehr kommt dem Infra­struk­tur­aus­bau im Schie­nen­netz eine über­ra­gen­de Rol­le bei der Ver­kehrs­wen­de zu. Die Bun­des­re­gie­rung muss beim Aus­bau der Eisen­bahn­stre­cken zu unse­ren Nach­barn end­lich Dampf machen. Dazu müs­sen Pla­nungs­ak­ti­vi­tä­ten beschleu­nigt und mehr Geld bereit­ge­stellt wer­den. Die Mit­tel für den Neu- und Aus­bau müs­sen schnell von jetzt rund 1,5 Mil­li­ar­den Euro auf 3 Mil­li­ar­den Euro jähr­lich ver­dop­pelt und in der zwei­ten Hälf­te der 2020er-Jah­re wei­ter erhöht wer­den. Neben der Besei­ti­gung von Eng­päs­sen müs­sen Pro­jek­te, die der euro­päi­schen Inte­gra­ti­on die­nen, die höchs­te Prio­ri­tät erhal­ten. Der teil­wei­se jahr­zehn­te­lan­ge Rück­stand gegen­über unse­ren Nach­barn ist nicht nur bla­ma­bel, son­dern vor dem Hin­ter­grund Deutsch­lands Rol­le in Euro­pa auch ver­ant­wor­tungs­los.“