11.07.2019
Die Bahn kommt in die Fläche zurück – wenn die Voraussetzungen stimmen
Bundesweit erfährt das Thema Streckenreaktivierung neuen Schwung. Zwei Beiträge von mir, die in “Alternative Kommunalpolititik” (AKP, siehe http://www.akp-redaktion.de/) erschienen waren und hier wiedergegeben werden, geben Aktiven vor Ort die nötigen Tipps.1
Zum Hintergrund
Seit Ende des 2. Weltkriegs hat sich die Bahn aus der Fläche zunehmend zurückgezogen. Auf mehr als 15.000 Streckenkilometern haben die Staatsbahnen in beiden deutschen Staaten und die Verantwortlichen nach der Bahnreform den Personenverkehr eingestellt. Doch schon mit Beginn der 1990er Jahre setzte quasi eine gegenläufige Entwicklung ein: Immer mehr abgehängte Regionen und Städte drängten darauf, wieder an das Eisenbahnnetz angebunden zu werden. Mit der Bahnreform 1994 und der Regionalisierung des Nahverkehrs auf der Schiene 1996 änderten sich die Rahmenbedingungen für die Reaktivierung von Eisenbahnstrecken zum Positiven. Seitdem verfügen Länder und Aufgabenträger über die Instrumente, stillgelegte Strecken wieder zu reaktivieren.
Zunächst braucht ein Reaktivierungsprojekt breiten Rückhalt in der Bürgerschaft. Es ist entscheidend, frühzeitig Treiber und Unterstützer zu finden. Auch mit relevanten Interessengruppen, die einer Streckenreaktivierung offen gegenüberstehen oder diese mit vorantreiben, sollte man sich im Vorfeld vernetzen und das weitere Vorgehen abstimmen.
Verbündete finden: Wem nützt es?
Die Frage „wem nützt es“ kann weiterhelfen, die entsprechenden Nutzer- und Zielgruppen zu identifizieren. Das sind zunächst die potenziellen Fahrgäste des Berufs‑, Schüler- und Freizeitverkehrs. Daneben finden sich auch Verbündete in den Bereichen Regionalförderung und Tourismus.
Den Güterverkehr nicht vergessen
Bei der Revitalisierung stillgelegter Strecken sind die Belange potenzieller Güterkunden nicht zu vergessen, auch weil der Güterverkehr auf der Schiene ganz eigene Anforderungen an die Ausgestaltung der Infrastruktur und den Betrieb hat. Gelingt es, mit dem Personenverkehr auch den Güterverkehr auf der Schiene in einer Region zu beleben, entlastet dies die Straßen vom Lkw-Verkehr – ein gutes Argument für die Kommunikation gegenüber Öffentlichkeit und Entscheidern!
Politische Voraussetzungen klären
Zur langfristigen Vorbereitung einer Streckenreaktivierung zählt die Berücksichtigung des Vorhabens im Landesentwicklungsplan beziehungsweise in Landesentwicklungsprogrammen sowie in den jeweiligen Regionalplänen. Ist das gelungen, kann sich ein politischer Grundsatzbeschluss des Kreistages oder Stadtrates anschließen.
Die Nahverkehrsgesetze der Länder bestimmen den jeweiligen Aufgabenträger für den Öffentlichen und den Schienenpersonennahverkehr. Aussagen zu geplanten Streckenreaktivierungen in den Nahverkehrsplänen der SPNV-Aufgabenträger gehen politische Beschlüsse auf Landesebene oder in der Region voraus. Auch dafür sind die Mehrheiten in den Gremien zu organisieren.
Besonders hoher Aufwand bei entwidmeten Strecken
Eine im Personenverkehr stillgelegte Eisenbahnstrecke ist je nach Zustand und Status der Infrastruktur unterschiedlich weit von einer Reaktivierung entfernt: Besonders groß ist der planerische wie technische Aufwand einer späteren Inbetriebnahme, wenn die Strecke bereits entwidmet wurde. Selbst wenn die Gleise noch liegen, gilt das nach einer sogenannten Freistellung von Eisenbahnbetriebszwecken nach Paragraf 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes planungsrechtlich nicht mehr als Bahnanlage. Es gibt überhaupt keinen Bestandsschutz für die Eisenbahninfrastruktur mehr. Das bedeutet beispielsweise bei Bahnübergängen, dass die kreuzende Straße nicht mehr niveaugleich mittels eines gesicherten Bahnübergangs über die Strecke geführt werden kann. Es müsste mit erheblichem Kostenaufwand eine Straßen- oder Eisenbahnüberführung gebaut werden.
Bessere Chancen bei „nur“ stillgelegten Gleisen
Bei einer Stilllegung nach Paragraf 11 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes wird das jeweilige Eisenbahninfrastrukturunternehmen dagegen lediglich von seiner Pflicht entbunden, eine Strecke in betriebssicherem Zustand vorzuhalten. Die Bahnanlagen bleiben aber weiter dem Fachplanungsrecht des Allgemeinen Eisenbahngesetzes unterworfen und sind damit der kommunalen Planungshoheit entzogen. Die (Wieder-) Inbetriebnahme einer stillgelegten und weiterhin „gewidmeten“ Strecke ist daher grundsätzlich möglich.
Infrastruktur sichern – am besten mit einem Vertrag
Um eine spätere Wiederinbetriebnahme einer Bahnstrecke offenzuhalten, ist daher die Sicherung der vorhandenen Trasse und der Erhalt der Widmung als Eisenbahnstrecke von zentraler Bedeutung. Der Eigentümer einer stillgelegten beziehungsweise ungenutzten Eisenbahninfrastruktur erzielt praktisch keine Einnahmen, ihm entstehen aber für die Vorhaltung der Strecke Kosten beispielsweise durch Verkehrssicherungspflichten. Daher ist die Neigung groß, die Infrastruktur endgültig abzubauen und den anfallenden Stahlschrott zu verwerten. Besonders in Großstädten und Verdichtungsräumen droht die Entwidmung von Bahnflächen, um sie für Wohnungsbau und andere Zwecke entwickeln und nutzen zu können.
Um die Eisenbahninfrastruktur für eine Wiederinbetriebnahme zu sichern, ist ein Infrastruktursicherungsvertrag mit dem Eigentümer der Bahnanlagen ratsam. Dabei werden beispielsweise zwischen einer Kommune und dem Infrastruktureigentümer die Konditionen zur Vorhaltung der Anlagen gegen eine Kostenerstattung geregelt.
Aufgrund der zentralen Bedeutung der Eisenbahninfrastruktur für die öffentliche Daseinsvorsorge erscheint eine systematische Vorgehensweise bei der Trassensicherung auf Landes- und Bundesebene allerdings angeraten zu sein, da sich das Eisenbahnnetz nur in einem überregionalen Zusammenhang planen und konfigurieren lässt. Entsprechende Regelungen zur Trassensicherung auf Landesebene müssen Eingang in die Landesraumordnung finden.
Streckenreaktivierung aktiv kommunizieren
Für eine erfolgreiche Streckenreaktivierung ist es heute umso bedeutender, dass von Seiten der Treiber und Befürworter von Beginn an aktiv über den Nutzen und die aktuellen Vorbereitungs- und Planungsstände informiert wird. Vor allem muss man sich offensiv mit den Argumenten möglicher Gegner auseinandersetzen. Beispielsweise muss klar werden, dass mit der Streckenreaktivierung das Angebot im öffentlichen Verkehr einer Region durchgreifend verbessert wird und eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Bus und Bahn eine wichtige Randbedingung ist. Auch Orte abseits der Eisenbahnstrecke profitieren, wenn sich durch gute Anschluss-Verbindungen die Fahrzeiten verkürzen und der Takt dichter wird.
Dafür ist es unabdingbar, Sachkenntnis in Sachen Eisenbahn einzubeziehen. In diesem Zusammenhang ist es ratsam, Kontakt zu einem regionalen Eisenbahnverkehrsunternehmen, Eisenbahninfrastrukturunternehmen oder anderen Sachkundigen herzustellen, die entsprechende Expertise einspeisen können.
Am Anfang müssen die erreichbaren Fahrgastpotenziale überschlägig abgeschätzt werden. Eine erste Antwort gibt das Verhältnis von Einwohnerzahl pro Streckenkilometer. Liegt diese Zahl über 1.000, erscheint eine Reaktivierung aussichtsreich. Bei einem Wert zwischen 600 und 1.000 sollte das Potenzial eingehend untersucht werden. Bei einem Ergebnis unter 600 ist es eher zu gering. Im nächsten Schritt gilt es, das erschließbare Fahrgastpotenzial genauer zu untersuchen: Wie sieht es mit dem Durchgangsverkehr und dem Pendlerpotenzial aus? Welche Bedeutung hat die Strecke für den Urlaubs- oder Freizeitverkehr? Und welche Bevölkerungsentwicklung wird prognostiziert?
Vom Streckenzustand hängen die notwendigen Investitionen ab und damit letztendlich auch die Erfolgsaussichten der Reaktivierung. Vertiefende Untersuchungen betrachten die Funktion der Strecke als Lückenschluss oder die Entfernung der Haltestellen zu Siedlungsschwerpunkten. Außerdem werden Reisezeitvergleiche zwischen Individual- und Schienenverkehr sowie zwischen Bus und Bahn angestellt.
Die Erfahrungen mit bereits reaktivierten Strecken zeigen, dass die Bahn als das attraktivere Verkehrsmittel wahrgenommen wird. Mit weniger Halten und vergleichbarer Erschließungsqualität kommt man mit ihr schneller zum Ziel als mit dem Bus. Die Fahrgäste nehmen dafür längere Fußwege zu Haltepunkten und Bahnhöfen in Kauf. Während der Weg zum nächsten Bahnhalt bis zu 1.200 Metern Entfernung akzeptabel erscheint, sind dies bei einer Bushaltestelle lediglich rund 300 Meter. Das Erschließungspotenzial einer Eisenbahnstrecke kann also grundsätzlich höher ausfallen als bei einer reinen Buslösung.
Vorhandenes Streckennetz: Chancen und Zwänge
Die Einbindung in das bestehende Streckennetz und Bahnangebot ist ein wichtiger Faktor für die erzielbare Nachfrage auf der reaktivierten Strecke. Entscheidend ist dabei, ob das nächste Oberzentrum oder der nächstgelegene Verdichtungsraum ohne Umsteigen erreichbar ist. Die Anbindung an das vorhandene Netz hat auch Einfluss auf den Fahrplan: Je nachdem, wie dicht und wann die Bestandsstrecke vom Fern- und Güterverkehr belegt ist, ergeben sich Zeitfenster für den Zugverkehr auf der neuen Strecke.
Berufs- und Freizeitverkehr: Wichtige Zielgruppen
Entscheidend für den Erfolg ist eine gute Resonanz bei den Zielgruppen Berufspendler und Bildungspendler – sie sichern eine gute Grundauslastung des neuen Nahverkehrsangebots. Bei den meisten seit 1994 reaktivierten Eisenbahnstrecken wurden die prognostizierten Fahrgastzahlen bereits nach wenigen Betriebsjahren deutlich übertroffen.
Besonders hervorzuheben sind die positiven Effekte auf den regionalen Tourismus. So haben die Schönbuchbahn und die Ammertalbahn in Baden-Württemberg die touristische Nachfrage in der Region besonders am Wochenende deutlich befördert. Auch in Zukunft ist damit zu rechnen, dass der zunehmende Rad- und Wandertourismus sich auch auf die Fahrgastnachfrage bei Streckenreaktivierungen positiv auswirkt.
Streckenreaktivierungen sind Bestandteil der Verkehrswende
Der kontinuierliche Rückzug der Schiene aus der Fläche durch das Auflassen von Strecken und Haltepunkten hat dazu geführt, dass das System Eisenbahn in vielen Regionen Deutschlands abseits der Hauptstrecken nicht mehr präsent und für Fahrgäste nicht mehr verfügbar ist. Ergebnis dieser Politik des vermeintlichen Gesundschrumpfens in den vergangenen Jahrzehnten ist ein massiver Bedeutungsverlust der Bahn im ländlichen Raum. Er spiegelt sich in einem unterdurchschnittlichen Marktanteil der Eisenbahn im Marktsegment von fünf bis 100 Kilometern Reiseweite wider.
Soll die Schiene im Zuge einer klimapolitisch gebotenen Verkehrswende zusätzliche Marktanteile von der Straße gewinnen, dann muss sie wieder verstärkt die derzeit brach liegenden Potenziale in der Fläche erschließen. Mit wieder in Betrieb genommenen Strecken und Bahnhöfen bekommen wieder mehr Menschen Zugang zum System Bahn.
Die Renaissance der Flächenbahn braucht mehr Geld
In einem Antrag2 fordert die grüne Bundestagsfraktion, dass bis 2030 etwa 2.000 Streckenkilometer wieder in Betrieb genommen werden. Die Verkehrswende kostet Geld, so auch die dafür notwendigen Reaktivierungen. Dafür wird schon heute das übliche Spektrum von Finanzierungsinstrumenten eingesetzt: von Regionalisierungsmitteln über Mittel aus den Landesprogrammen für den Nahverkehr bis hin zum Bundestopf Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG-Bundesprogramm).
Die vereinbarte Verdreifachung des GVFG-Bundesprogramms von 333 Millionen Euro auf eine Milliarde Euro muss jetzt schnell umgesetzt und danach zügig an den wachsenden Investitionsbedarf des öffentlichen Verkehrs angepasst werden. Der Bund könnte also sowohl über die klassischen Instrumente Regionalisierungsmittel als auch das GVFG-Bundesprogramm die Renaissance der Bahn in der Fläche begünstigen und fördern. Letztlich ist auch ein Sonderprogramm „Verkehrswende“ denkbar, aus dem Streckenreaktivierungen mitfinanziert werden können.
… und ein Umsteuern bei der Infrastruktur-Finanzierung
Wer verkehrspolitisch umsteuern will, muss vorrangig die Schwerpunkte bei der Finanzierung der Infrastruktur verändern. Die unveränderte Straßenbaufixierung des Bundes konterkariert eine Verkehrswende und steht im krassen Widerspruch zu umwelt- und klimapolitischen Zielstellungen. Der sogenannte Finanzierungskreislauf Straße lässt die Einnahmen der Lkw-Maut vollständig in den Straßenbau fließen. Damit hat die Bundesregierung eine „Endlos-Straßenbaumaschine“ geschaffen. Sie muss umgehend gestoppt werden. Das Straßennetz hat gerade in der Fläche eine Netzdichte und Qualität erreicht, von dem die Schiene weit entfernt ist. Umsteuern ist also das Gebot der Stunde.
1) Vgl. Gastel, Matthias: Reaktivierung von Schienenstrecken. Die Bahn kommt in die Fläche zurück – wenn die Voraussetzungen stimmen, in AKP 2/2019, Seite 40 ff.
2) „Die Eisenbahn zum Rückgrat der Verkehrswende machen“, Drucksache 19/7452 auf bundestag.de: https://gruenlink.de/1ll0