Engpass-Beseitigung jetzt angehen!
Einmal mehr haben wir die Bundesregierung und die Deutsche Bahn mit Fragen in einer parlamentarischen Initiative zur Kapazität des Tiefbahnhofs gelöchert. Zuvor schon von uns kritisierte lange Wartezeiten auf Anschlusszüge wurden weitgehend bestätigt. Eine Eignung für den Deutschlandtakt konnten Bundesregierung und Deutsche Bahn (DB) ebenso wenig belegen wie die Umsetzbarkeit des noch recht neuen Ziels einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen.
Wie knapp die Kapazitäten im neuen Tiefbahnhof bemessen sind zeigt sich unter anderem darin, dass in der Spitzenstunde in „etwa 11 Fällen“ (so heißt es in der Antwort auf eine unserer Fragen) Doppelbelegungen vorgesehen sind. Dies bedeutet, dass zwei Züge hintereinander auf einem Bahnsteiggleis halten. Ob dies angesichts des starken Gleisgefälles überhaupt genehmigungsfähig ist, lässt sich gegenwärtig noch nicht beurteilen. Auf jeden Fall schränken Doppelbelegungen die betriebliche Flexibilität ein.
Die DB hat die erforderliche Umsteigezeit im neuen Stuttgarter Tiefbahnhof auf 9 Minuten definiert. Eine ausführliche Anlage zur Antwort der Bundesregierung zeigt aber, dass der Zielfahrplan zum Deutschland-Takt in zahlreichen Fällen doppelt so lange und noch längere Umsteigezeiten, und damit deutlich mehr Zeit als für den Umstieg erforderlich, unterstellt. Im Ergebnis müssen die Fahrgäste damit bei vielen Verbindungen länger als tatsächlich erforderlich auf ihre Anschlüsse warten.
Konkrete Beispiele überlanger Umsteigezeiten im Stuttgarter Tiefbahnhof:
Bad Urach nach Mannheim, Berlin und Koblenz 19 bis 21 Minuten; Aalen nach Heilbronn 19 Minuten; Ludwigsburg nach Singen 17 Minuten; Göppingen nach Erfurt, Düsseldorf, Heilbronn und Ludwigsburg 15 bis 19 Minuten; Tübingen nach Vaihingen (Enz), Backnang und Karlsruhe 23 Minuten; Schorndorf nach Heilbronn 19 Minuten. Diese langen Wartezeiten ergeben sich aus unterschiedlichen Gründen, die unmittelbar mit den begrenzten Kapazitäten des Tiefbahnhofs zu tun haben können. Manchmal fehlen – wie auf der Gäubahn – fahrplanorientierte Streckenausbauten, um Fahrgästen einen früheren Anschluss zu ermöglichen. Von und nach Tübingen hingegen muss der schnellere Neigetechnikzug entfallen, da er aufgrund seines Dieselantriebs nicht mehr in den neuen Hauptbahnhof einfahren darf.
Auffällig ist auch, dass einige Großstädte von Stuttgart aus nicht im Halbstundentakt erreicht werden sollen. Darunter befindet sich mit Nürnberg eine Stadt, die an der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen München und Berlin und damit auf einer Hauptachse liegt. Hier ist nur ein “75/45-Minuten-Rhytmus” vorgesehen.
Nachdem sich die Bundesregierung und die Deutsche Bahn das Ziel gesetzt haben, die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln zu wollen, stellt sich die Frage, ob und wie dieses Ziel auch in Stuttgart umgesetzt werden kann. Die Bundesregierung behauptet in ihren Antworten auf unsere Fragen erneut, dass das Verdopplungsziel in puncto Fahrgastzahlen mit der Infrastruktur des Stuttgarter Tiefbahnhofs umzusetzen sei. Sie relativiert das Ziel allerdings mit dem Hinweis, dass sich das Ziel auf ganz Deutschland beziehe und nicht auf den Stuttgarter Bahnhof allein. In der Antwort heißt es, dass die DB AG „eine Verdopplung der Zahl der Zugreisenden mit der im Bau befindlichen Infrastruktur des Bahnknotens Stuttgart [grundsätzlich] für möglich halte“ mit dem Argument, dass der Zugewinn an durchgebundenen Linien und daher ein Wegfall von Umsteigerelationen sowie die Digitalisierung der Schiene dieses Ziel ermöglichen werden. Die Stellungnahme der DB vom 16. Juli 2019 stützt das Ziel zudem auf das Argument, dass das “politische Ziel der Verdopplung des Bahnverkehrs auf den Betrieb über einen ganzen Tag hinweg ausgerichtet [ist], nicht explizit auf die Spitzenstunde”.
An dieser Argumentation zeigt sich, dass weder die Bundesregierung noch die DB den Stuttgarter Tiefbahnhof auf das Verdopplungsziel hin geprüft haben. Denn selbstverständlich muss angenommen werden, dass sich die Fahrgastzahlen zu jeder Stunde gegenüber heute verdoppeln – und damit auch in der kritischen Spitzenstunde. Die Fähigkeit des Stuttgarter Tiefbahnhofs, das Verdopplungsziel tragen zu können, bleibt auch weiterhin bloße Unterstellung.
Wenn die Bundesregierung nun so oft die Digitalisierung der Schiene anspricht und als Teil der Lösung für den versprochenen Kapazitätsgewinn anpreist: Wie sieht es damit für Stuttgart aus? Für die viel beschworene neue Leit- und Sicherungstechnik ETCS gibt es noch immer keine Klarheit bezüglich der Finanzierung, musste die Bundesregierung einräumen.
Ausbaubedarfe in Form zusätzlicher Gleise am Hauptbahnhof (bspw. in Form von Kopfgleisen) und eines 5. und 6. Gleises zwischen Zuffenhausen und Feuerbach sieht die Bundesregierung nicht. Dabei hatte selbst die DB in jüngster Vergangenheit mehr oder weniger deutlich zumindest für die nördliche Zulaufstrecke einen Ausbaubedarf begründet.
Fernverkehr am Flughafen
Wie viele Fernzüge werden von der Neubaustrecke (NBS) zwischen Stuttgart und Ulm am Flughafen ausgeschleift und halten am Flughafen? Der zweite Entwurf des Zielfahrplans 2030 sieht lt. Bundesregierung stündlich einen haltenden und 3,5 nicht haltende Fernzüge vor, die auf der NBS am Flughafen vorbeirauschen. Dies bedeutet, dass noch nicht einmal jeder 4. Fernzug am Flughafen halten wird.
Mein Fazit:
Den Nachweis, dass sich im neuen Stuttgarter Bahnknoten der Deutschlandtakt und eine Verdopplung der Fahrgastzahlen umsetzen lassen, sind die Deutsche Bahn und die Bundesregierung weiter schuldig geblieben. Die benötigten Kapazitäten können auch nicht mit digitaler Zauberei an der Leit- und Sicherungstechnik geschaffen werden. Zwei Fahrplanentwürfe wurden bereits erstellt, ohne die Ziele, attraktivere Verbindungen zu schaffen und die Fahrgastzahlen deutlich zu erhöhen, abgebildet zu bekommen. Der Bahnknoten weist mindestens zwei Engpässe auf: Die nördliche Zulaufstrecke ist mit den bestehenden Gleisen zu knapp bemessen und die Neubaustrecke von Mannheim kommend endet zu weit vor dem Hauptbahnhof, um taktfähige Fahrzeiten zu ermöglichen. Es bräuchte dringend ein schnell befahrbares fünftes und sechstes Gleis. Den zweiten Engpass stellt der Tiefbahnhof mit nur acht Gleisen dar. Dieser ist gerade im Fernverkehr auf sehr kurze Standzeiten ausgerichtet und nicht darauf, dass die Züge einige Minuten zeitgleich stehen, um den Fahrgästen das Umsteigen zu ermöglichen. Erforderlich ist der Bau zusätzlicher Bahnsteiggleise, die sich nur als Kopfbahngleise in Ergänzung zum Tiefbahnhof realisieren lassen. Wer das Ziel einer Verdopplung der Fahrgastzahlen ernst nimmt, kann die hierfür benötigte Kapazitäten nicht alleine durch Bits und Bytes herstellen, sondern braucht auch Stahl und Beton. Für diesen Konsens ist es jetzt höchste Eisenbahn. Diejenigen, die Stuttgart 21 einst gegen fachlichen Rat und alle Widerstände durchgesetzt haben, müssen jetzt endlich Verantwortung übernehmen und die benötigten Kapazitäten für das Verdopplungsziel schaffen.