Das Gleisvorfeld am Stuttgarter Hauptbahnhof ist noch nicht entwidmet und wurde auch noch nicht beantragt, so die Antwort der Bundesregierung auf meine Anfrage. Eine Entwidmung ist die Voraussetzung dafür, dass die Fläche einer anderen Nutzung als für die Bahn zugeführt werden kann. Die Ampelkoalition hat, wie sie im Koalitionsvertrag vereinbart hatte, die Entwidmung von Bahnflächen per Gesetz erschwert. Die Koalition hat sich in der Neufassung des entsprechenden Gesetzesparagraphen (§ 23 Allgemeines Eisenbahngesetz) an einen Formulierungsvorschlag aus dem Verkehrsministerium gehalten. Dort heißt es nun: „Der Bahnbetriebszweck eines Grundstücks, das Betriebsanlage einer Eisenbahn ist oder auf dem sich eine Betriebsanlage einer Eisenbahn befindet, liegt im überragenden öffentlichen Interesse und dient der Aufrechterhaltung sowie der Weiterentwicklung der Eisenbahninfrastruktur im Rahmen der kurz‑, mittel- oder langfristig prognostizierbaren zweckentsprechenden Nutzung.“ Der Deutsche Städtetag schreibt dazu: „Eine Freistellung von Bahnbetriebszwecken zugunsten anderer wichtiger Vorhaben wird damit deutlich erschwert oder gar unmöglich.“ Weiter schreibt er, die Freistellung könne nur dann erfolgen, wenn das Interesse des Antragstellers dieses überragende öffentliche Interesse überwiegt, kein Verkehrsbedürfnis mehr besteht und langfristig keine Nutzung im Rahmen der Zweckbestimmung mehr zu erwarten ist.“ Das zuständige Eisenbahnbundesamt vertrete die Auffassung, so der Städtetag, dass Freistellungen nur noch für Zwecke erfolgen können, die ebenfalls Kraft Gesetzes im überragenden öffentlichen Interesse liegen. Darunter fallen beispielsweise Anlagen für erneuerbare Energien, jedoch keine Gebäude.
In der Praxis zeigt sich nun also, dass Entwidmungen nur noch für Vorhaben von überragendem öffentlichem Interesse möglich sind. Bebauungen mit Wohnungen, Gewerbe und Tiefgaragen fallen nicht unter diese Definition. Damit ist klar: Die Bahnflächen können nicht genutzt werden, wie sich die Landeshauptstadt Stuttgart dies vorstellt. Dazu erklärt der Bahnpolitiker der Grünen im Bundestag, der Filderstädter Matthias Gastel:
„Wir werden als Grüne einer Bebauung des Gleisvorfeldes nicht generell im Wege stehen. Dafür sind wir zur Änderung des Eisenbahngesetzes bereit. Für Stuttgart wie auch anderswo gibt es aber Bedingungen: Entwidmungen dürfen dem von dieser und auch früheren Bundesregierungen angestrebten Wachstum auf der Schiene nicht im Wege stehen. Vor jeder Entwidmung muss zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass deutlich höhere Verkehrsanteile für die Schiene nicht durch anderweitige Nutzungen von Bahnflächen verunmöglicht oder erschwert werden. Stuttgart könnte zum ersten Fall einer rechtlichen Neuregelung werden. Es ist der Nachweis zu erbringen, wie deutlich mehr Verkehr als geplant abgewickelt werden kann. Das definierte Ziel liegt in einer ersten Stufe in einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen. Möglichkeiten für dieses Ziel und weitere Potentiale dürfen nicht verbaut werden.“
Ergänzende Stellungnahmen für die Presse:
“Es braucht für den neuen Bahnknoten in Stuttgart eine Entwicklungsperspektive deutlich über das Jahr 2030 hinaus. Ich halte daher für wahrscheinlich, dass ein Teil des Gleisvorfeldes weiterhin für bahnbetriebliche Zwecke benötigt wird.”
“Was für zukünftige Bahnnutzungen benötigt werden könnte, darf nicht anderen Zwecken zugeführt werden. Daher haben wir als Koalition Entwidmungen erschwert, was ich für richtig und überfällig halte.”
“Einige Leute berufen sich nun unter anderem darauf, dass es sich lediglich um eine Umlegung von Bahnanlagen „von oben nach unten“ handeln würde und es damit gar kein Entwidmungsverfahren brauchen würde. Das kann und muss man bezweifeln. Im Falle der Gäubahn wäre diese Argumentation besonders unlogisch, da dieser Verbindung ja eine langjährige Abkopplung vom Hauptbahnhof in Stuttgart droht. Der Betrieb soll hier also nicht von einem Tag auf den anderen von der einen Streckenführung auf die andere umgelegt werden. Gerade für eine durchgehende Gäubahn-Verbindung an den Stuttgarter Hauptbahnhof ist die neue Rechtsgrundlage eine riesige Chance.”
„Die Ampelkoalition wollte eine Verschärfung bei den Entwidmungen von Eisenbahnflächen, um diese für zukünftige Entwicklungen zu sichern. Viel zu häufig wurden in der Vergangenheit Güterbahnhöfe mit Supermärkten oder Gleisanschlüsse mit neuen Straßen überbaut. Diese stehen heute selbst bei unstrittig erkennbarem Bedarf für Bahnanlagen nicht mehr zur Verfügung. In Stuttgart wurde von vornherein zu wenig Wert auf die Ermöglichung zukünftiger Erweiterungen für einen wachsenden Bahnverkehr gelegt. Der Bahnhofstrog ist mit acht Gleisen knapp bemessen und nicht erweiterbar. Bei einem neuen Bahnknoten, der für Jahrzehnte Bestand haben wird, hätte weit über das Jahr 2030 hinausgedacht und Entwicklungspotentiale hätten vorgesehen werden müssen. In und um Stuttgart müssen gute Betriebskonzepte, dichtere Takte und die Umsetzung des Deutschlandtaktes, der gerade weiterentwickelt wird, möglich sein. Die verschärfte Regelung für Entwidmungen von Bahnflächen im Allgemeinen Eisenbahngesetz eröffnet die neue Chance, sich diese möglichen Entwicklungsbedarfe endlich ernsthaft anzuschauen und nicht das gesamte Gleisvorfeld mit bahnfremden Nutzungen zu überbauen. Gerade für die Fahrgäste der Gäubahn, der aufgrund bisheriger Pläne eine jahrelange Abhängung vom Stuttgarter Hauptbahnhof droht, dürfte eine völlig neue, deutlich positivere Ausgangslage entstanden sein. Die gegenwärtige, kontroverse Debatte scheint leider nur ein Schwarz oder Weiß zu kennen. So läuft der Vorwurf des Aktionsbündnisses gegen S 21, es drohe eine Verwässerung der neuen Regelung, wenn man diese wieder ändern wolle, völlig ins Leere. Denn es geht ja eben nicht darum, dass die Bahn ihre Interessen wieder hintenanstellen muss. Es geht darum, perspektivisch benötigte Flächen für eine Zukunftsbahn zu sichern. Dies wird absehbar nicht die gesamte Fläche des Gleisvorfeldes sein. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass die Verschärfung im allgemeinen Eisenbahngesetz sich nicht ausschließlich in Stuttgart auswirkt. Vielmehr haben wir an einigen, womöglich auch an vielen Orten in Deutschland die neue Situation, dass beispielsweise der Bau von Radwegen nicht weitergehen kann, da einige Quadratmeter gewidmeter Bahnflächen benötigt werden. Daher brauchen wir seitens des Bundesgesetzgebers eine praktikable Lösung, um der zukünftigen Bahnentwicklung keine Flächen zu entziehen und gleichzeitig Flächen, die mit ziemlicher Sicherheit auch perspektivisch nicht mehr für Bahnnutzungen erforderlich sind, anderen sinnvollen Nutzungen zuführen zu können. Die Deutsche Bahn und der Städtetag sammeln gerade konkrete Fälle, in denen Entwicklungen durch die verschärfte Rechtslage behindert werden. Die Ergebnisse können hilfreich sein zu beurteilen, wo Entwidmungen völlig zurecht verhindert werden (die Gesetzesverschärfung also vollumfänglich ihren Zweck erfüllt) und an welchen Stellen es Sinn machen könnte, sich die geltende Verschärfung genauer anzuschauen. Gespräche dazu sind noch nicht angelaufen.“