Mit Menschen mit Behinderung in sechs verschiedenen öffentlichen Verkehrssystemen unterwegs
Mobilität ist die Voraussetzung für wirtschaftliche und soziale Teilhabe. In einer Gesellschaft mit immer mehr älteren Menschen und Menschen mit Behinderung werden barrierefreie Reiseketten immer wichtiger. In Deutschland leben über zehn Millionen Menschen mit Behinderung. Ihnen werden jedoch häufig Barrieren in den Weg gelegt. Busse und Bahnen im Nah- wie im Fernverkehr sind oftmals – wenn überhaupt – insbesondere für Menschen im Rollstuhl nur eingeschränkt nutzbar. Auch für Menschen mit Sehbehinderung sind öffentliche Verkehrsmittel häufig nur mit Hilfe anderer Personen nutzbar. Es muss jedoch darum gehen, Mobilität möglichst selbstbestimmt zu ermöglichen, also ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe. Von Barrierefreiheit profitieren auch Eltern mit kleinen Kindern und Reisende mit viel Gepäck.
„Barrierefreiheit“ kann nicht auf Stufenlosigkeit beschränkt werden. So müssen beispielsweise Informationssysteme und Fahrkartenautomaten auch für Menschen mit Seh- und für Menschen mit Höreinschränkungen nutzbar sein und WC-Anlagen in Bahnhöfen und Zügen behindertengerecht ausgestattet sein.
Von rund 5.400 Bahnhöfen der DB sind aktuell 77% stufenfrei (nicht automatisch barrierefrei!). So verfügen beispielsweise erst 51% der Bahnsteige über ein taktiles Leitsystem. Viele Bahnsteige sind nicht barrierefrei erreichbar, Aufzüge (alleine die DB betreibt 2.100 Aufzüge) sind zu oft defekt (häufig aufgrund von Vandalismus!). Oftmals bestehen zwischen Bahnsteigen und Zügen Höhendifferenzen.
Um mehr Einblicke in die Perspektiven von Menschen mit Behinderung zu gewinnen, war ich mit zwei Rollstuhlfahrern und zwei Personen mit Sehbehinderung (einer davon mit sehr geringem Sehrest)unterwegs. Wir haben entlang einer Reisekette insgesamt sechs verschiedene Verkehrssysteme genutzt. Unsere Erfahrungen werden hier dokumentiert. Sie wurden außerdem in einem Video festgehalten.
Mit dem ICE von Stuttgart nach Karlsruhe
Ein Problem wurde uns bereits in der Reiseplanung aufgezeigt: Der ICE verfügt nur über zwei Plätze für Menschen im Rollstuhl. Einer davon war zum Zeitpunkt unserer Buchung schon reserviert. Wir mussten uns also in zwei Züge – den ICE und den deutlich langsameren IRE – aufteilen. Die Ein- und Ausstiege waren mit der Unterstützung des Mobilitätsservice der DB problemlos. Was mir allerdings sehr negativ auffiel: Eine DB-Mitarbeiterin duzte einen unserer Rollifahrer (er ist über 30 Jahre alt) und auch bei weiteren Umsteigevorgängen wurde er zunächst geduzt, was dann allerdings schnell wieder korrigiert wurde.
Mit dem IRE von Stuttgart nach Karlsruhe
Der Platz für Rollstuhlfahrer war ganz hinten im Zug und nicht vorne, wie der DB-Mitarbeiter zuerst sagte. Da der Zug allerdings mehrere Minuten in Stuttgart Aufenthalt hatte, war das Einsteigen kein Problem. Wir hatten genug Zeit und der DB-Mitarbeiter hat mit der Rampe geholfen. In Karlsruhe kam die DB-Mitarbeiterin dann auch erst kurz nach der Ankunft des Zuges, weil sie am falschen Ende des Bahnsteiges auf uns gewartet hat. Der Rollifahrer konnte ohne Einstiegshilfe aussteigen, weil er sehr sportlich ist.
Hauptbahnhof Karlsruhe
Es stellte sich heraus, dass das Blindenleitsystem uneinheitlich gestaltet und mithilfe des Blindenstocks aufgrund des zu geringen Profils teilweise kaum ertastet werden kann. Ein Leitstreifen führte auf eine nur zu Hälfte geöffneter Tür zu, was beim blinden Mitreisenden zu kurzen Irritationen führte. Die Querung der Straßenbahn- und S‑Bahngleise ist für Menschen mit Sehbehinderung schwierig, da die Züge sehr leise fahren und es kein akustisches Warnsignal gibt.
Mit der Straßenbahn durch Karlsruhe
Obwohl auf der elektronischen Fahrplananzeige an der Haltestelle vor dem Hauptbahnhof das Rollstuhlsymbol aufzeigte und dieses auch neben der Straßenbahn-Türe angebracht war, musste eine Höhendifferenz von etwa 20 Zentimetern überwunden werden. Eine Rampe oder ein Lift gab es dafür nicht. Die beiden Rollstuhlfahrer mussten in die Straßenbahn hinein- und später wieder hinausgehievt werden. Mit Elektrorollstühlen wäre ein Zugang unmöglich gewesen!
Mit dem Fernbus von Karlsruhe nach Stuttgart-Flughafen
Der Fernbushalt besteht aus zwei etwa 80 Meter langen Bussteigen, wobei unklar ist, welcher Fernbus wo hält. Für Menschen mit Sehbehinderung gibt es keinerlei Hilfen und mit einem Rollstuhl kann man nicht ohne Umwege von einem zum anderen Bussteig gelangen. Unser Bus fuhr so an den Bussteig heran, dass der Einstieg von der Fahrbahnseite und nicht von der Bussteigseite her erfolgte. Wir hatten zwei Tage vorher angemeldet, dass wir mit zwei Rollstuhlfahrern kommen. So verlangt es Flixbus, das Fernbusunternehmen mit einem Marktanteil von 90 Prozent. Die Busfahrer wussten jedoch von nichts, als sie mit einem angeblich ganz neuen, aber ohne Rampe oder Lift und ohne Stellflächen ausgestatteten Bus ankamen. Nach kurzer Ratlosigkeit packten sie an und hoben die beiden Rollifahrer in den Bus hinein. Die Tür zum WC und der Flur waren damit blockiert. Anschnallen konnten sich beide – entgegen den Vorschriften – nicht. Da Flixbus nach jeder Fahrt um eine Bewertung bittet, habe ich auf die beschriebenen Umstände hingewiesen. Zusätzlich habe ich einen Brief an das Unternehmen geschrieben.
Unterwegs am Flughafen
Der Weg vom neuen Busbahnhof zum Flughafen und zur S‑Bahnstation ist für Menschen mit Sehbehinderung kaum zu finden, da die Wegeführung kompliziert ist und es außerhalb des Busbahnhofes kein Leitsystem gibt.
Mit der S‑Bahn vom Flughafen nach Filderstadt
Einer der beiden Rollstuhlfahrer kam problemlos alleine in die S‑Bahn hinein und wieder hinaus. Der andere benötigte Hilfe wegen der Lücke zwischen Bahnsteigkante und Zug. Im Zug stellte einer der beiden Begleiter mit Sehbehinderung (knapp zehn Prozent Sehvermögen) fest, dass er kaum lesen kann, was auf den Monitoren angezeigt wird. Die Schrift ist zu klein.
Mit dem Bus von Filderstadt nach Nürtingen
Die Klapprampe, die manuell bedient werden muss, ermöglicht vom erhöhten Bahnsteig aus einen problemlosen Einstieg. In Nürtingen sind die schmalen Bussteige und vor allem die fehlenden abgeflachten Bordsteine ein Problem (abgeflachte Bordsteine sind nicht nutzbar, so lange der Bus noch am Bussteig steht).
Bahnhof Nürtingen
Ein Blindenleitsystem ist lediglich auf den Bahnsteigen vorhanden. Der Aufzug funktioniert. Die Bahnsteige sind für die Regionalzüge zu hoch. Die manuelle Rampe, die der Zug mitführt und die im Internet angegeben („Fahrzeuggebundene Einstiegshilfe vorhanden“) ist, ist leider defekt. Einer der beiden Rollifahrer muss hineingetragen werden. Der andere (ein Rollstuhlbasketballer) kommt mit einem gewagten Sprung mitsamt seinem Gefährt alleine in den Zug. Auf der defekten Rampe steht, man solle eine andere Türe oder einen anderen Wagen nutzen. Sehr cleverer Tipp, denn es gibt keine weitere Rampe im Zug.
Hauptbahnhof Stuttgart
Zum Ausstieg muss ein Höhenunterschied aufwärts überwunden werden. Hierfür benötigen beide Rollstuhlfahrer Unterstützung. Der Mobilitätsservice hat uns bereits erwartet und hilft.
Fazit
Alle Aufzüge haben funktioniert. Die DB-MitarbeiterInnen und die Fernbusfahrer waren äußerst freundlich und hilfsbereit. Auch die Mitreisenden haben geholfen, wo Hilfe notwendig war. Zugleich mussten wir erleben, dass Einstiegshilfen im Fernbus und im Zug gefehlt haben bzw. defekt waren. Und häufig passen die Bahnsteighöhen und die Einstiegshöhen der Fahrzeuge nicht zusammen. Menschen mit Behinderung werden häufig durch vermeidbare Hürden in ihrer Mobilität behindert. Die Flexibilität beim Reisen, wie ich sie gewohnt bin, ist Menschen mit Behinderung zumeist verwehrt. Sie müssen ihre Reisen akribisch im Voraus planen. Reisen in Gruppen, das hat sich gezeigt, ist besonders schwierig oder sogar unmöglich.
Es muss auch berücksichtigt werden, dass unsere gesamte Reise nur deshalb recht gut funktioniert hat, weil alle Verkehrsmittel nahezu pünktlich waren. Für die Politik und die Verkehrsunternehmen bleibt auf dem Weg zu einer barrierefreien Mobilität noch viel zu tun! Aber: Mobilität ist die Voraussetzung für Teilhabe! Für uns Politiker (neben mir war noch Hermino Katzenstein MdL dabei) hat die Tour nochmal sehr eindrucksvoll die Handlungsbedarfe aufgezeigt.
Sehr schade war es, dass die Presse den Einladungen zu Gesprächen an keinem der vier Orte, zu dem unterschiedliche Zeitungen eingeladen wurden, gefolgt ist. Ist das kein Thema für die Medien?