14.06.2020
Möglichkeiten zur Neuordnung des Stuttgarter S‑Bahn-Netzes
Die Region Stuttgart besitzt seit dem Jahr 1978 ein S‑Bahn-Netz, welches seit Eröffnung immer weiter gewachsen ist und heute an einem Werktag circa 434.000 Fahrgäste befördert. Damit ist die S‑Bahn ein Rückgrat der Mobilität in der Region.
Seit der Eröffnung bestand jede Erweiterung allerdings entweder aus dem Einfügen neuer Linien oder der Verlängerung bestehender Linien. Die Grundstruktur des Netzes wurde nie geändert. Mit der nun bevorstehenden Inbetriebnahme der Station Mittnachtstraße im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 und daraus notwendigen Fahrplananpassungen auf allen Linien ergibt sich die Gelegenheit, die Grundstruktur des Netzes komplett zu überdenken und zu überprüfen, ob es auch effizientere Netzformen gibt. Im Rahmen dieser Überlegungen können auch die Schaffung neuer, umsteigefreier Verbindungen innerhalb des bestehenden Netzes überprüft werden, für die keine oder nur geringe Anpassungen an der bestehenden Infrastruktur notwendig sind. Durch die so gesteigerte Attraktivität der S‑Bahn könnten Personenverkehre von der Straße auf die Schiene verlagert werden.
In der Masterarbeit im Fach Verkehrsingenieurwesen an der Uni Stuttgart von Steffen Thomma wurde eine Methodik zur systematischen Planung von S‑Bahn-Netzen am Beispiel der Region Stuttgart entwickelt und untersucht. Die Methodik bietet die Möglichkeit, nach Ermittlung von Daten aus dem Untersuchungsraum und Festlegen einiger Qualitätsparameter, die Planung eines S‑Bahn-Netzes von der Taktermittlung über die Linienbildung bis zur konkreten Zeitlage der einzelnen Fahrten nach objektiven Kriterien durchführen zu können. Dazu gehört die Einbeziehung der Schusterbahn von Untertürkheim nach Kornwestheim. Auch die Nutzbarmachung vorhandener und der Neubau kleinerer Infrastrukturen wurden in einigen der untersuchten Varianten unterstellt. Dies geschah unter Zuhilfenahme eines Verkehrsmodells der Region, um die Auswirkungen der Planungen simulieren zu können.
Das Netz, auf dem die Untersuchung stattfindet, stellt den prognostizierten Zustand für 2025, dar, die Station Mittnachtstraße und die Strecke nach Neuhausen auf den Fildern sind wie die Hermann-Hesse-Bahn bis Renningen bereits in Betrieb gegangen. Ebenfalls wird im Kernbereich bereits eine Ausrüstung mit ETCS unterstellt, so dass auch zwischen Schwabstraße und Vaihingen Züge im 2,5‑Minuten-Abstand verkehren können. Eine weitere Verdichtung, beispielsweise auf einen 2‑Minuten-Abstand, war nicht mehr möglich, da die Dauer der Fahrgastwechsel an den Innenstadtstationen dies verhindert.
An dieser Stelle sollen vier der untersuchten Szenarien vorgestellt werden, um die Möglichkeiten, die die Region Stuttgart hätte, aufzuzeigen. Die Kennzahlen des heutigen Zustands und der vier Varianten für einen durchschnittlichen Werktag im Gebiet des Verbands Region Stuttgart sind in nachfolgender Tabelle vermerkt. Die ersten drei Szenarien beschränken sich auf die heutige Netzausdehnung und Optimierungs-/Ausbaupotenzial innerhalb dieser Netzgrenzen. Variante 4 hingegen soll als Vorschlag für eine langfristige Weiterentwicklung des S‑Bahn-Netzes gesehen werden.
Heutiges Netz | Anpassung der Linienverläufe | Angebotsaus-weitungen ohne Infrastrukturausbau | Angebotsausweitung mit Infrastrukturausbau | Vision 2030+ | |
Zurückgelegte Wege mit dem Pkw | 4.033.000 | 4.044.000 | 4.027.000 | 4.019.000 | 4.003.000 |
Pkw-Fahrzeugkilometer | 41.114.000 | 41.103.000 | 40.943.000 | 40.871.000 | 40.683.000 |
Personenfahrten mit der S‑Bahn | 434.000 | 439.100 | 489.200 | 510.100 | 580.400 |
Gefahrene Zugkilometer der S‑Bahn | 37.211 | 36.374 | 47.246 | 51.853 | 64.429 |
Variante 1: Anpassung der Linienverläufe
Im ersten untersuchten Szenario wurden auf den einzelnen Streckenabschnitten dieselbe Anzahl an Zügen gefahren und lediglich der Verlauf der Linien wurde angepasst, um möglichst den stärksten Pkw-Verkehrsströmen zu folgen, damit eine attraktive Alternative dazu geschaffen wird. Trotz der geringeren Anzahl gefahrener Zugkilometer nutzen bereits mehr Menschen das Angebot und die Zahl der gefahrenen Pkw-Fahrzeugkilometer nimmt ab. Die Anzahl der mit dem Pkw zurückgelegten Wege nimmt zu. Da die Zahl der Fahrzeugkilometer aber abnimmt, werden jedoch kürzere Wege zurückgelegt. Es werden also vor allem längere Pkw-Wege auf den öffentlichen Verkehr verlagert. Kürzere Fahrten, die bislang aufgrund einer Überlastung des Straßennetzes nicht stattfanden, werden wegen der verlagerten längeren Pkw-Fahrten nun durchgeführt. Aufgrund der zurückgehenden Fahrzeugkilometer sind weniger Emissionen und damit ein positiver Effekt für die Umwelt zu verzeichnen. Mit zusätzlichen Fahrten in Tagesrandlagen, die hier jedoch nicht unterstellt wurden, zur Erreichung derselben Zugkilometerzahl und damit Betriebskosten wie heute, könnten mehr Menschen von der S‑Bahn angezogen werden. In untenstehender Abbildung ist das optimierte bestehende Netz zu sehen, eine durchgehende Linie steht für ein Verkehren im 15-Minuten-Takt, eine gestrichelte Linie für einen 30-Minuten-Takt.
Variante 2: Angebotsausweitungen ohne Infrastrukturausbau
Im Szenario „Angebotsausweitungen ohne Infrastrukturausbau“ wurden auch die notwendigen Zugzahlen selbst ermittelt. Dies führt zu einer Angebotsausweitung von circa 25% und neuen, umsteigefreien Verbindungen (beispielsweise Leonberg – Bietigheim-Bissingen oder Esslingen – Kornwestheim), wodurch deutlich mehr Menschen angezogen werden. Auch die Anzahl der mit dem Pkw zurückgelegten Wege sinkt, die Pkw-Fahrzeugkilometer sinken sogar um 171.000 Kilometer. Das Netz ist in untenstehender Abbildung zu sehen.
Variante 3: Angebotsausweitungen mit Infrastrukturausbauten
Größere Verlagerungseffekte wurden in einem Szenario erzielt, in dem noch zusätzlich kleinere Infrastrukturausbauten vorgenommen wurden. Dadurch wurden zusätzliche Fahrten möglich, wodurch es zu über 500.000 täglichen Personenfahrten bei der S‑Bahn kam. Auch die Anzahl der Pkw-Wege und der Pkw-Fahrzeugkilometer sinken weiter.
Neben den untersuchten Netzvarianten innerhalb der Grenzen des heutigen S‑Bahn-Netzes wurden auch weitere Varianten entwickelt, die bestehende Schienenstrecken innerhalb des gesamten Verbands Region Stuttgart betrachten. Hierbei wurde das Netz an den Rändern um bestehende Strecken ergänzt, die das Fahrgastpotenzial für einen S‑Bahn-Verkehr aufwiesen und für die die Ertüchtigungskosten für einen S‑Bahn-Betrieb vertretbar wären. Dadurch ergeben sich auch für Fahrgäste, die außerhalb des heutigen S‑Bahn-Netzes wohnen, neue umsteigefreie Verbindungen. Bei neuen Strecken im Netz auf denen bereits langlaufender Regionalverkehr verkehrt (bspw. die Erweiterung nach Geislingen (Steige) mit langlaufendem Regionalverkehr Stuttgart<->Ulm), wurde die S‑Bahn zusätzlich zu diesen Verkehren eingeplant. Auf anderen, eher regional bedeutsamen Strecken wie Nürtingen – Neuffen, wird das bisherige Angebot durch eine S‑Bahn-Linie mit dementsprechenden Angebotsstandard ersetzt.
Kapazitätserweiterungen durch Ergänzungen der Infrastruktur
Die für Variante 3 und 4 notwendigen Infrastrukturausbauten, die auch im bestehenden Netz betriebliche Vorteile bringen würden, sind:
- Blockverdichtungen auf eine Länge von höchstens einem Kilometer auf einigen Mischverkehrsstrecken für eine dichtere Zugfolge, vor allem zwischen Waiblingen und Schorndorf sowie Rohr und Herrenberg
- Neubau eines kurzen zweigleisigen Begegnungsabschnitts bei Burgstall in Richtung Kirchberg
- Neubau zusätzlicher Bahnsteige in Böblingen, Sindelfingen, Maichingen und Burgstall
- Ertüchtigung des Industriegleises zwischen Böblingen und Hulb zum vollständig nutzbaren dritten Gleis
Zusätzlich notwendig für Variante 4:
- - Neubau eines Überwerfungsbauwerks zwischen der Station Neckarpark und Bad Cannstatt, um direkte Fahrten Neckarpark <-> Schusterbahn zu ermöglichen
- - Neubau eines dritten Gleises von Herrenberg nach Nufringen für dichtere Zugfolgen
- - Viergleisiger Ausbau zwischen Rohrer Kurve und Goldberg
- - Umbau des Bahnhofs Böblingen zur Ermöglichung von Fahrten in der Relation Weil im Schönbuch <-> Sindelfingen
- - Neubau eines Bahnsteigs in Zuffenhausen
- - Anpassung der Bahnsteige an S‑Bahn-Betrieb und ggf. Elektrifizierung der Strecken Böblingen – Dettenhausen, Schorndorf – Rudersberg und Nürtingen – Neuffen
Für weitere, hier nicht dargestellte, Varianten wurden weitere Infrastrukturausbauten zugrunde gelegt:
- Die Nutzbarmachung der Verbindungskurve von Untertürkheim zur Station Nürnberger Straße und Neubau einer Verbindungskurve in Gegenrichtung
- Neubau eines Überwerfungsbauwerk südlich des Bahnhofs Kornwestheim um direkte S‑Bahn-Fahrten Ludwigsburg <-> Schusterbahn zu ermöglichen
- Neubau eines dritten Gleises von Schorndorf nach Weiler für dichtere Zugfolgen
- Neubau eines zweigleisigen Begegnungsabschnitts westlich des Bahnhofs Backnang für die Strecke Richtung Marbach
Hinweise zu weiteren untersuchten Varianten
Zusätzlich zu den hier vorgestellten Varianten wurden in der Masterarbeit noch weitere Netze erstellt und deren verkehrliche Wirkung untersucht. Die Vorgestellten sind diejenigen, die im Vergleich mit anderen Varianten, die etwa Investitionen in derselben Höhe benötigen würden, die besten verkehrlichen Wirkungen erzielen konnten. Der Großteil der nicht vorgestellten untersuchten Varianten liefern aber ebenfalls bessere Ergebnisse als das heutige Netz.
Erläuterungen zur verwendeten Methodik
Die im Rahmen der Masterarbeit entwickelte Methodik beruht auf Ergebnissen aus einem Verkehrsmodell der gesamten Region Stuttgart. Die erwartete Nachfrage auf den einzelnen Abschnitten wurde durch Ermittlung eines Wunschnetzes der Fahrgäste ermittelt. Die Anzahl der pro Stunde auf den einzelnen Streckenabschnitten verkehrenden S‑Bahnen wurden anhand dessen festgelegt, so dass ein komfortables Platzangebot für die Reisenden bereitgestellt werden kann. Die Linienbildung erfolgte anschließend parallel zu den Haupt-Pendler-Relationen, die im Pkw zurückgelegt werden, um diesen eine umsteigefreie Alternative bieten zu können. Dabei wurde ebenfalls darauf Wert gelegt, dass die einzelnen Linien nicht zu lang werden um eine hohe Pünktlichkeit im Netz zu gewährleisten.
Politische Bewertungen und Schlussfolgerungen durch Matthias Gastel
0. Ausgangslage
- - Nach zahlreichen Erweiterungen des Netzes und im Vorfeld weiterer Erweiterungen sollte die Grundstruktur des Netzes grundlegend überdacht werden: Wo kommen die Fahrgäste her, wo wollen sie hin, auf welchen Verbindungen machen umsteigefreie Verbindungen für die meisten Fahrgäste Sinn?
- - ETCS im Netz der S‑Bahn ist sehr zu begrüßen, allerdings ist eine Verdichtung der Zugfolgezeit in der Stuttgarter Innenstadt auf weniger als 2,5 Minuten aufgrund der langen Fahrgastwechselzeiten nicht realistisch.
- - Mit teils kleineren Infrastrukturmaßnahmen zur Erhöhung der Kapazitäten und zur Erschließung neuer umsteigefreier Relationen lassen sich bereits größere Wirkungen entfalten und Angebotsverbesserungen verwirklichen.
- - Zu den genannten Fragestellungen durfte ich nach der Bachelor-Arbeit zur „Betriebsqualität des Schienenpersonennahverkehrs auf eingleisigen Streckenabschnitten am Beispiel eines Viertelstundentaktes nach Filderstadt“ (David Glaser, Juni 2018) nun eine weitere wissenschaftliche Arbeit fördern.
Wichtig ist mir folgender Hinweis: Es handelt sich um keine „Auftragsarbeit“! Die Methodik und der genaue Untersuchungsumfang oblagen alleine dem Ersteller der Masterarbeit. Es wurde streng nach wissenschaftlichen Kriterien gearbeitet.
1. Durch die Masterarbeit „aufgedeckte“ Auffälligkeiten
- - Es ist bemerkenswert, dass verhältnismäßig einfache Maßnahmen zur Verbesserung der Betriebsqualität nicht längst schon umgesetzt wurden. So lässt der lange Blockabstand zwischen „Schwabstraße“ und „Vaihingen“ nur eine Taktfolge von fünf Minuten zu. Erst mit ETCS soll dieses Problem aufgelöst werden.
- - Die S‑Bahn hat Potential, Verkehre vom Auto auf die Schiene zu verlagern
- - Dieses Potential kann nur zu eher geringen Teilen alleine durch Angebotsverbesserungen ausgeschöpft werden
- - Bereits kleinere Entlastungswirkungen auf den Straßen durch Verlagerungen auf die S‑Bahn werden für vermehrte Kurzstreckenfahrten mit dem Auto genutzt.
- - Mobilitätsentscheidungen „pro Auto“ folgen oftmals sehr starren Gewohnheiten und lassen sich nur sehr eingeschränkt durch bessere Alternativen wie dichtere Takte und mehr Direktverbindungen mit der S‑Bahn durchbrechen
- - Bessere S‑Bahn-Angebote produzieren auch „induzierte Verkehre“, gewinnen also Fahrgäste, die zuvor diese Strecke oder eine Strecke vergleichbarer Länge überhaupt nicht zurückgelegt hatten.
2. Schlussfolgerungen
- - Die Grundstruktur der S‑Bahn (insbes. Linienführung) muss überdacht werden
- - ETCS sollte als Chance für die Verbesserung der Betriebsqualität und nicht als Möglichkeit für Verdichtungen der Zugfolgezeit betrachtet werden. Hierfür sind Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur erforderlich.
- - Möglichkeiten für überwiegend kleinere infrastrukturelle Ergänzungen sollten ausgeschöpft und völlig neue Relationen hergestellt werden.
- - Der Ausbau des S‑Bahn-Netzes, mehr/neue Direktverbindungen und eine Verdichtung der Taktangebote müssen zwingend mit restriktiven Maßnahmen zur Begrenzung des Autoverkehrs einhergehen, um eine spürbare Wirkung entfalten zu können.
- - Maßnahmen wie die Umwandlung von Fahrspuren und öffentlichen Parkraums in Busspuren, attraktive Radwege, Spiel- und Grünflächen oder auch Flächen für die Außengastronomie erhöhen die Wirksamkeit besserer öffentlicher Nahverkehrsangebote und zugleich die Lebensqualität in den Städten.