Bundestagswahl 2017 – eine Wahlnachlese
In den Monaten vor der Wahl waren unsere Umfragewerte wie festbetoniert: So sehr sich Katrin Göring-Eckardt, Cem Özdemir und all die anderen KandidatInnen abrackerten, nie gaben uns die Institute mehr als sieben bis acht Prozent. Dabei schien die Ausgangslage alles andere als ungünstig zu sein: Wir traten relativ geschlossen auf und die Diesel- und Abgasskandale sowie Fipronil in Eiern rückten unsere Themen, die Umwelt- und Verbraucherpolitik, in den Fokus. Mein Eindruck im Wahlkampf war, dass im Wahlvolk lange Zeit Unentschlossenheit und Ratlosigkeit überwogen. Erst wenige Tage vor der Wahl war nach meiner Wahrnehmung eine für uns positive Stimmung erkennbar. Zum ersten ist dies durch die bereits sicher geglaubte Wiederwahl Merkels und den rasanten Dynamikverlust der SPD-Kampagne befördert worden, zum zweiten hatten wir Grüne insbesondere in den letzten zwei Wochen, so auch auf dem Wahlparteitag am Wochenende vor der Wahl, nochmal spürbaren Kampfgeist gezeigt. Die Zahlen der Demoskopen bestätigen dies: 40 Prozent unserer Wähler*innen entschieden sich erst am Wahltag oder in den Tagen unmittelbar zuvor, uns ihre Stimme anzuvertrauen. Insofern war es richtig und von Erfolg gekrönt, bis zuletzt um jede Stimme zu werben.
460.000 Stimmen legten wir gegenüber der Wahl 2013 zu; 180.000 davon stammten aus Baden-Württemberg. 230.000 der bundesweit netto hinzugewonnenen Stimmen stammten aus dem Lager der früheren Nichtwähler*innen. Damit haben wir Grüne unseren Beitrag zur höheren Wahlbeteiligung (76,2% statt 71,5% in 2013) geleistet.
Erfreulich ist, dass uns unsere Wähler*innen zu 73 Prozent aus Überzeugung wählten – nur bei den (verbliebenen) CDU/CSU-Wähler*innen lag dieser Wert noch höher. Bei der AfD sagten dies nur 31 Prozent derer, die diese Partei gewählt haben; 60 Prozent gaben der AfD nur aus Enttäuschung über die anderen Parteien die Stimme.
Wer hat uns gewählt? Hier gab es wenig Überraschungen: Mehr Frauen als Männer, mehr die höher Gebildeten und am häufigsten Beamte. Persönlich erfreulich finde ich, dass uns auch wieder jeder zehnte Selbstständige unterstützt hat.
Nachdenklich stimmen muss, dass der Stimmenzuwachs im Wesentlichen nur aus vier Bundesländern beigesteuert wurde und in Bremen und Thüringen deutliche Stimmenverluste zu verzeichnen waren. Geringe relative Verluste gab es aber auch in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Ebenfalls bedenklich für uns Grüne ist es, dass uns außerhalb unseres Markenkerns der Umweltpolitik (mit 56 Prozent sehr hohe Kompetenzzuschreibung) relativ geringe Kompetenzwerte zugeschrieben werden. Bei Wirtschaft, Arbeitsmarktpolitik und anderen wichtigen Themen liegen wir weit zurück. Immerhin bei der Flüchtlings‑, Bildungs- und Familienpolitik liegen wir mit sieben Prozent annähernd auf unserem Stimmenniveau bei der Bundestagswahl.
Wir Grüne in Baden-Württemberg
Auffällig am Ergebnis in Baden-Württemberg ist, dass es weitaus deutlicher über dem Bundesschnitt liegt als bei vorangegangenen Bundestagswahlen. Lagen wir im Ländle sonst immer zwischen 2,6 und 3,2 Prozentpunkte über dem Bund, so lag der Vorsprung diesmal bei stattlichen 4,6 Punkten! Ich kann nur vermuten, woran es lag: Während im Jahr 2013 wegen der offensichtlichen inhaltlichen Widersprüche zwischen Spitzenkandidat Trittin und unserem Landesvater kein Kretschmann-Effekt möglich war, erschienen wir diesmal mit dem „Landeskind“ und „Kretschmann-Vertrauten“ Özdemir gerade hier im Lande glaubwürdiger und geschlossener. Überhaupt war auffällig, dass in Baden-Württemberg viele grüne Kandidat*innen mehr Erst- als Zweitstimmen erhielten – und das trotz eines Zweitstimmenwahlkampfes. Dies spricht dafür, dass unserem Personal häufig mehr vertraut wird als der Partei.
Wie auch immer: Anders als 2013 war ich mit dem „mit mir verheirateten Listenplatz 10“ nicht der Letzte, der das Ticket nach Berlin gelöst hat, sondern wir sind auf 13 Grüne aus Baden-Württemberg angewachsen. Damit stellen wir die stärkste Landesgruppe, noch vor der aus NRW! Ich freue mich, dass wir damit innerhalb der Fraktion mehr Gewicht bekommen, aber auch im Ländle noch besser präsent sein können.
Wir Grüne in meinem Wahlkreis
Mit meinem Abschneiden kann ich sehr zufrieden sein: Mit 14,2 Prozent bei den Zweitstimmen konnte ich um 2,6 Punkte zulegen und liege 0,7 Punkte über dem Landesdurchschnitt. Bei den Erststimmen setzen gar 14,8 Prozent der Wähler*innen ihr Kreuz an meinen Namen, was einem Zugewinn um 4,9 Punkte entspricht.
Die besten Zweitstimmenergebnisse konnten wir Grüne in Bissingen (17,2%), Kirchheim (16,5%), Schlaitdorf (16,2%) sowie in Leinfelden-Echterdingen (15,8%) einfahren. Bei den Erststimmen lagen Leinfelden-Echterdingen (18,0%) Filderstadt (17,3%; in einzelnen Stimmbezirken bis zu 23%) und Bissingen (16,8%) deutlich über dem Wahlkreisergebnis.
Auch an dieser Stelle: Vielen Dank an alle, die mich im Wahlkampf unterstützt haben!
Zur AfD
Die neue 93 Sitze starke AfD-Fraktion besteht aus vielen Abgeordneten, die aus ihren nach rechts offenen, hasserfüllten Einstellungen keinen Hehl gemacht haben. Gauland, einer der beiden Spitzenkandidaten und neuer Fraktionsvorsitzender, sagte, man werde „uns unser Land und unser Volk zurückholen“ (woher denn eigentlich?). Andere behaupten, Deutschland solle eine „Umvolkung“ erfahren und wenden damit einen Begriff aus der Zeit der gewaltsamen Eroberungen im Osten unter dem Nationalsozialismus an. Wieder andere wollen den „Kult mit der Schuld“ beenden oder bezeichnen Muslime pauschal als „Gesindel“. Der ein oder andere wird u. a. wegen seiner Kontakte zur „Idenditären Bewegung“ vom Verfassungsschutz beobachtet. Einer der neugewählte Rechten schreibt für den rechts-esoterischen Kopp-Verlag verschwörungstheoretische Bücher. Drohungen gegenüber Journalisten, die nach Ansicht einiger AfDler zu unfreundlich über die Partei berichten, wurden mehrfach ausgesprochen. Kostprobe, gerichtet gegen ZDF-Moderatorin Marietta Slomka: „Am 24.09. mache ich dich arbeitslos, Mäuschen.“
Kein Wunder, dass 86 Prozent der Deutschen über die AfD sagen, sie distanziere sich nicht genug von rechtsextremen Positionen und selbst 90 Prozent ihrer eigenen Wähler*innen sagt, die AfD löse keine Probleme.
Interessant finde ich die Betrachtung der Wählerwanderungen: In absoluten Zahlen bezog die AfD die meisten Stimmen von CDU/CSU, gefolgt von der SPD. In Relation zur Größe der Wählerschaft sind aber die Stimmen auffällig, die von der Linkspartei zur AfD gewandert sind. Es ist naheliegend, dass das klassische Protestwählermilieu – auch bedingt durch die Regierungsbeteiligungen der Linkspartei, etwa in Thüringen, Berlin und Brandenburg – bei dieser Bundestagswahl mit der AfD eine neue politische Heimat gefunden hat.
52 Prozent der Bundesbürger*innen (96 Prozent derer, die uns gewählt haben) möchten uns gerne in der Bundesregierung sehen, so das Ergebnis einer Umfrage, die vor der Wahl durchgeführt wurde. Galt ein Bündnis aus Union, FDP und Grünen vor dem Wahlsonntag noch als höchst unpopulär, hat sich das Wahlvolk sehr schnell mit dem Gedanken an eine solche Konstellation angefreundet und spricht sich zu 57 Prozent (ein Plus von 34 Punkten!) dafür aus.
Die inhaltlichen Hürden für solch eine Konstellation gleichwohl sind äußerst hoch. Zu groß sind die Unterschiede der vier Parteien. Daher haben wir erklärt: „Die Hürden für eine Zusammenarbeit sind hoch. Wer mit uns regieren will, muss sich entsprechend bewegen. Es gibt keinen Automatismus für eine Regierungsbeteiligung.“ Selbstverständlich ist für uns aber, dass wir in dieser Situation – zumal nach dem erklärten Gang der SPD in die Opposition – die Gespräche sehr ernsthaft führen werden. Wir sind darauf sehr gut vorbereitet. Ich freue mich, die Sondierungsgespräche aus dem Hintergrund aktiv mitbegleiten zu dürfen und bin sehr gespannt, was sich inhaltlich mit Union und FDP gemeinsam umsetzen lässt – und ob die Gemeinsamkeiten groß genug sind, um in Koalitionsverhandlungen einzusteigen. Entscheidend wird es sein, aus dem technokratischen Klein-Klein der Großen Koalition auszusteigen und eine tragende Idee für die Entwicklung Deutschlands in einer sich rasant verändernden Welt zu entwickeln. Ob die Union, die sich gerade selber im Streit zerlegt, hierfür die Kraft aufwenden kann, wissen wir heute noch nicht.
Ist eine Minderheitsregierung eine tragfähige Alternative? Manche machen ja den Vorschlag, dass die Union alleine oder ggf. mit der FDP regieren und sich von Fall zu Fall ihre parlamentarischen Mehrheiten organisieren soll. Ich halte davon nichts. Erstens ist die Union alleine und auch die Union mit der FDP zu weit von einer Mehrheit entfernt. Zweitens brauchen wir eine stabile, verlässliche Regierung. Drittens bestünde das Risiko, dass sich für „Volksbeglückungen“ immer, für unpopuläre aber (momentan noch nicht absehbare) notwendige Maßnahmen wie Einsparungen im Haushalt jedoch selten Mehrheiten fänden. Viertens: Von den eigenen politischen Vorstellungen lässt sich am meisten durch die Beteiligung an einer Regierung durchsetzen. Für die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen wurden wir (wie auch die anderen Parteien) gewählt. Und fünftens: Wer soll Merkel zur Kanzlerin wählen[1] ohne die Gewissheit, dass sich deren Politik zumindest ein Stück weit in die Richtung der eigenen Erwartungen hin bewegt? Das kann nur ein Koalitionsvertrag gewährleisten.
Fazit: Wir sollten sehr ernsthaft ausloten, was sich mit Union und FDP an grüner Programmatik durchsetzen lässt und erst dann entscheiden, ob wir „Jamaika“ anstreben!
[1] Frühestens im dritten Wahlgang ist die Wahl der Kanzlerin auch ohne absolute, sondern mit relativer Mehrheit denkbar. Es obliegt aber letztlich dem Bundespräsidenten, ob er die Gewählte zur Kanzlerin ernennt oder aber den Bundestag auflöst. Die Folge wären dann Neuwahlen.