Wiener Impulse für die Verkehrswende

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24.06.2019

Sieben Institutionen in eineinhalb Tagen

Vie­le den­ken beim Stich­wort „Wien“ sofort an das berühm­te 365 Euro-Ticket. Was hat es damit auf sich und was hat sich in Wien sonst noch ver­kehr­lich getan? Die­ser Fra­ge bin ich vor Ort nach­ge­gan­gen.

Ein­ein­halb Tage war ich in Beglei­tung von Mit­glie­dern der „Lan­des­ar­beits­ge­mein­schaft Mobi­li­tät“ der Grü­nen Baden-Würt­tem­berg in Wien unter­wegs. Wir haben dort sie­ben Insti­tu­tio­nen besucht, die öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel und auch die dort schon län­ger zuge­las­se­nen elek­tri­schen Tret­rol­ler getes­tet.

Unser ers­ter Ter­min führ­te uns zu den „Wie­ner Lini­en“, die in Wien die U‑Bahn, Stra­ßen­bahn und Bus­se betrei­ben. Seit den 1990er-Jah­ren konn­te der öffent­li­che Nah­ver­kehr deut­li­che Ver­kehrs­an­tei­le gewin­nen: Er leg­te von 29 auf 38 Pro­zent, bezo­gen auf die zurück­ge­leg­ten Wege, zu. Der Anteil des Auto­ver­kehrs sank von 40 auf 29 Pro­zent. Das Erfolgs­re­zept: Mas­si­ver Aus­bau der Ange­bo­te im öffent­li­chen Nah­ver­kehr und gleich­zei­ti­ge Ein­füh­rung der Park­raum­be­wirt­schaf­tung. Wie schätzt das Ver­kehrs­un­ter­neh­men den Erfolg des im Mai 2012 ein­ge­führ­ten 365 €-Tickets ein? Wir bekom­men den Hin­weis, dass der Ver­kehrs­an­teil der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel auch schon vor­her ver­hält­nis­mä­ßig hoch gewe­sen ist und sich die Fahr­gast­zu­wäch­se seit­her in etwa auf dem Niveau des Bevöl­ke­rungs­wachs­tums bewe­gen. Das begehr­te Ticket habe zu einem Rück­gang der ver­kauf­ten Wochen-und Monats­fahr­kar­ten geführt, sei auch von Wenig­fah­rern erwor­ben wor­den und habe letzt­lich vor allem dazu geführt, dass Kun­den dem öffent­li­chen Nah­ver­kehr treu geblie­ben sei­en (zumal sich das Ticket von sel­ber stän­dig ver­län­gert, wenn es nicht gekün­digt wird). Zah­len bele­gen, dass der stärks­te Fahr­gast­zu­wachs vor Ein­füh­rung des neu­en Jah­res­ti­ckets zu ver­zeich­nen war. Wien ver­fügt mit 28 Stra­ßen­bahn­li­ni­en, die den „Auto-Wahn“ der 1970er-Jah­re über­stan­den haben, 5 U‑Bahn- und 129 Bus­li­ni­en über ein benei­dens­wert gut aus­ge­bau­tes Netz an öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln. Die meis­ten Bus­se fah­ren mit Die­sel, eini­ge weni­ge sind bat­te­rie­elek­trisch unter­wegs und wer­den an den End­hal­te­stel­len an den Ober­lei­tun­gen der Stra­ßen­bahn gela­den. Es ist geplant, mehr E‑Busse anzu­schaf­fen. Zwei U‑Bahn-Lini­en sol­len aus­ge­baut wer­den, eine davon soll fah­rer­los wer­den. In der benach­bar­ten U‑Bahn-Leit­stel­le infor­mier­ten wir uns über die Orga­ni­sa­ti­on der U‑Bahn und schau­ten den Dis­po­nen­ten über die Schul­ter. Eine Beson­der­heit: Jede Linie hat ihre eige­ne Tras­se, die sie maxi­mal im 2,5 Minu­ten-Takt befährt.

Die ver­kehrs­po­li­ti­sche Tour durch Wien führ­te uns zur “Rad­lob­by”, dem 2013 gegrün­de­ten Dach­ver­band ört­li­cher Rad­ver­kehrs­grup­pen. Der Rad­ver­kehrs­an­teil in Wien stieg zwar seit den 1990er-Jah­ren, ist mit gera­de ein­mal sie­ben Pro­zent aber noch immer schwach. Die Rad­lob­by for­dert höhe­re Inves­ti­tio­nen ins Rad­ver­kehrs­netz, eine ein­heit­li­che Kenn­zeich­nung der Rad­rou­ten und mehr Enga­ge­ment der Arbeit­ge­ber. Der Ver­band hat Leit­li­ni­en für Rad­we­ge ent­wi­ckelt und emp­fiehlt dar­in aus­rei­chend brei­te, von Geh­we­gen und Fahr­spu­ren getrenn­te Rad­ver­kehrs­an­la­gen.

Anschlie­ßend tra­fen wir uns mit Ver­tre­tern der Ver­kehrs­po­li­zei, um über die Ver­kehrs­si­cher­heit des Rad­ver­kehrs und der in Wien weit ver­brei­te­ten E‑Tretroller zu spre­chen. Die Poli­zei führt jeden Monat zwei Groß­kon­trol­len des Rad- und Rol­ler­ver­kehrs durch. Am häu­figs­ten tre­ten die Geh­weg­nut­zung und die Miss­ach­tung des Rot­lichts auf. Die Ver­lei­her der E‑Roller wer­den von der Poli­zei als koope­ra­tiv beschrie­ben. Her­vor­ge­ho­ben wird, dass sie die Nut­zer aus­drück­lich auf die Ver­kehrs­re­geln hin­wei­sen. Eine Erhe­bung der Unfall­zah­len unter den Rol­ler­fah­ren­den gibt es (noch) nicht.

Die Vize­bür­ger­meis­te­rin Maria Vas­sila­kou (Grü­ne) ist unter ande­rem für Stadt­ent­wick­lung und Ver­kehr zustän­dig. Sie ver­wies im Gespräch auf die Zuwäch­se im öffent­li­chen Nah­ver­kehr, sah aber kei­nen Grund, sich auf die­sen Erfol­gen aus­zu­ru­hen. Den Pend­lern aus dem Umland (Bun­des­land Nie­der­ös­ter­reich) Ange­bo­te mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln zu machen, ist aus ihrer Sicht eine zen­tra­le Auf­ga­be. Doch dort wür­de nach wie vor auf den Aus­bau von Stra­ßen gesetzt. Die Aus­wei­tung der Park­raum­be­wirt­schaf­tung, die zunächst auf Wider­stän­de gesto­ßen sei, sto­ße heu­te auf Zustim­mung und sei ein wesent­li­cher Erfolgs­fak­tor für Bus und Bahn. Beim Rad­ver­kehrs­netz gel­te es, eini­ge Lücken auf rele­van­ten Abschnit­ten zu schlie­ßen. Zu E‑Tretrollern, die sie posi­tiv sieht, ste­he im Herbst eine Eva­lua­ti­on der bis­he­ri­gen Ent­wick­lung an.

An unse­rem Abend­essen nahm mit Prof. Her­mann Kno­fla­cher ein renom­mier­ter Raum- und Stadt­pla­ner, bekannt durch vie­le Bücher und bis­wei­len pro­vo­ka­ti­ve The­sen, teil. Er sprach sich für weit­ge­hend park­platz- und auto­freie Städ­te aus. „Das Auto darf die Stadt nie im Griff haben.“

Wie ein roter Faden zog sich das The­ma „E‑Tretroller“ durch unse­re ver­kehrs­po­li­ti­schen Gesprä­che in Wien. Wir spra­chen dar­über mit „Rad­lob­by“, der Inter­es­sen­ver­tre­tung des Rad­ver­kehrs, mit der Ver­kehrs­po­li­zei und mit der Vize­bür­ger­meis­te­rin. Schließ­lich tra­fen wir uns mit Ver­tre­tern von „Tier“, einem der fünf in Wien akti­ven Ver­leihan­bie­ter. Wir schau­ten uns deren Werkstatt/Lager an und fuh­ren anschlie­ßend eini­ge Kilo­me­ter auf Rad­we­gen, Schutz­strei­fen und „nor­ma­len“ Fahr­bah­nen durch die Stadt. Die E‑Tretroller sind weit­ge­hend dem Fahr­rad gleich­ge­stellt. So müs­sen sie, wenn vor­han­den, auf Rad­we­gen oder Schutz­strei­fen gefah­ren wer­den. Sie dür­fen bis zu 25 km/h schnell fah­ren (in Wien in Abspra­che mit der Stadt bis­lang 18 km/h), über eine Leis­tung von bis zu 600 Watt ver­fü­gen und ab 12 Jah­ren (hier­von gibt es meh­re­re Aus­nah­men) gefah­ren wer­den. Wir hör­ten in den Gesprä­chen ver­ein­zelt Kri­tik an der Miss­ach­tung von Ver­kehrs­re­geln durch die Nutzer/innen und auch ver­ein­zelt Zwei­fel an der Lang­le­big­keit der Rol­ler – aber nichts von grund­sätz­li­chen Kon­flik­ten oder gar einer Ableh­nung die­ser neu­en Mobi­li­täts­form. Gelobt wur­de bspw., dass die Ver­lei­her den Bau von Rad­ab­stell­bü­gel mit­fi­nan­zie­ren. Deut­lich wur­de, wie sinn­voll und not­wen­dig kla­re Abspra­chen zwi­schen Ver­leihan­bie­tern und Kom­mu­nen sind. Die Ver­tre­ter von „Tier“, die in Wien seit Okto­ber 2018 genau 1.500 Leih­rol­ler am Start haben, sag­ten, dass davon noch 99 Pro­zent im Ein­satz sei­en. Die Halt­bar­keit der Rol­ler soll sich mit zukünf­ti­gen Model­len durch robus­te­re Bau­wei­sen wei­ter ver­bes­sern.

In eini­gen Tagen wer­den E‑Tretroller auch in Deutsch­land zuge­las­sen. Wir sehen Chan­cen, dass dadurch Kurz­stre­cken­fahr­ten mit dem Auto ver­mie­den wer­den. Wich­tig ist, dass Ver­kehrs­räu­me für den Rad­ver­kehr und die Tret­rol­ler aus­rei­chend dimen­sio­niert und sicher gestal­tet wer­den.