„Wohin entwickeln sich die Parteien?“ – Dialog mit Parteienforscher Prof. Jun

So lau­te­te das The­ma einer öffent­li­chen Video­ver­an­stal­tung mit dem Par­tei­en­for­scher Prof. Uwe Jun. Dabei haben wir kurz zurück und vor allem in die Gegen­wart geschaut und die Situa­ti­on bzw. die Per­spek­ti­ven der Par­tei­en erör­tert.

Bei der letz­ten Bun­des­tags­wahl (Sep­tem­ber 2021) gab es so man­che Über­ra­schun­gen: Die SPD leg­te in den Wochen vor der Wahl deut­lich zu, die CDU/CSU schrumpf­te. Schließ­lich lan­de­te die SPD auf Platz 1 und stellt seit­her mit Olaf Scholz den Kanz­ler. Dass hier­für ein Ergeb­nis von „nur“ 25,7 Pro­zent reich­te, ist höchst unge­wöhn­lich.

Unter Füh­rung der SPD wur­de ein Ampel-Bünd­nis mit Grü­nen und FDP geschnürt. Es muss­te gleich weni­ge Wochen nach Amts­an­tritt auf­grund der Fol­gen des rus­si­schen Angriffs auf die Ukrai­ne gro­ße Her­aus­for­de­run­gen bewäl­ti­gen: Es galt, die Strom­ver­sor­gung in Euro­pa sicher­zu­stel­len, Ener­gie­trä­ger für die Wär­me­ver­sor­gung in Deutsch­land ein­zu­spa­ren, die­se in aus­rei­chen­der Men­ge vor­zu­hal­ten und die Fol­gen der star­ken Infla­ti­on für Bürger*innen und Unter­neh­men abzu­fe­dern. Unter dem mas­si­ven Hand­lungs­druck erwies sich die Koali­ti­on als aus­ge­wie­sen hand­lungs­fä­hig. Dies alles brach­te den Han­deln­den zunächst Aner­ken­nung ein. Doch bald ereil­ten die Koali­ti­on zahl­rei­che Mühen und unter­schied­li­che inhalt­li­che Posi­tio­nen sowie Poli­tik­vor­stel­lun­gen erschwer­ten die Arbeit. Die Koali­ti­on wird vor allem über ihren Streit und nicht über ihre Leis­tun­gen wahr­ge­nom­men.

Zunächst konn­ten weder die Uni­on noch die AfD stark vom ram­po­nier­ten Image der Koali­ti­on pro­fi­tie­ren. Im Lau­fe der Zeit änder­te sich dies jedoch. Die Uni­on liegt längst auf Platz 1, die AfD konn­te sich in Umfra­gen und bei Land­tags­wah­len stei­gern. Im Osten liegt die AfD Umfra­gen zufol­ge sogar vor­ne. SPD und FDP haben sich in den Umfra­gen hal­biert. Die Grü­nen kön­nen sich mit Ten­denz zu leich­ten Ver­lus­ten in etwa hal­ten.

Die­ses star­ke Auf und Ab zeigt ein­mal mehr: Lager sind auf­ge­löst und Par­tei­en­bin­dun­gen sind schwä­cher aus­ge­prägt als frü­her (wobei es die­se in Ost­deutsch­land kaum gab), Wahl­aus­gän­ge sind unbe­re­chen­ba­rer. Vor allem in den End­pha­sen von Wahl­kämp­fen sei die­se Vola­ti­li­tät beson­ders aus­ge­prägt und kön­ne kurz­fris­ti­ge Ver­än­de­run­gen um meh­re­re Pro­zent­punk­te aus­ma­chen, so der Demo­skop Mat­thi­as Jung[1]. Ver­stärkt wer­den dürf­te die­ser Trend dadurch, dass der­zeit vie­le Men­schen ver­un­si­chert oder gar durch vie­le Ver­än­de­run­gen über­for­dert sind.

  1. Ver­än­der­te Repu­blik: Wahl­be­tei­li­gung, Par­tei­en­bin­dung und Ver­trau­en in die Insti­tu­tio­nen

Fra­ge an Prof. Jun: Von den 1950er-Jah­ren bis in die 1980er-Jah­re lag die Wahl­be­tei­li­gung noch bei deut­lich über 85 Pro­zent. Seit­her schwankt sie stark zwi­schen 70 und 80 Pro­zent. Was ist der Grund und was bedeu­tet dies für unse­re Demo­kra­tie?

Ant­wort Prof. Jun: Für die­se Ent­wick­lung gibt es drei Haupt­grün­de. Der ers­te Grund ist, dass die Par­tei­en­bin­dung zurück geht, d.h. die Meschen füh­len sich einer Par­tei nicht mehr so stark ver­bun­den, wie es frü­her ein­mal war. Der zwei­te Grund ist, dass die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen eine Wahl nicht mehr als demo­kra­ti­sche Ver­pflich­tung anse­hen, wie es die Men­schen älte­rer Gene­ra­tio­nen auf­fas­sen und der drit­te Grund ist das ver­min­der­te Ver­trau­en in die Poli­tik. Drit­tens errei­chen die Par­tei­en Men­schen mit gerin­gem Bil­dungs­ni­veau und Ein­kom­men inhalt­lich wie kom­mu­ni­ka­tiv schlech­ter errei­chen und die­se dann auch sel­te­ner wäh­len gehen.

Ich den­ke da immer: Man braucht doch bloß mal in ande­re Län­der zu schau­en, in denen die Bürger*innen noch nie annä­hernd so viel zu sagen hat­ten wie hier bei uns. Selbst in euro­päi­schen Län­dern erle­ben wir, wie Rech­te (Mei­nungs­frei­heit, Pres­se­frei­heit) ein­ge­schränkt wer­den. Für mich es daher unver­ständ­lich, wie so vie­le Men­schen unse­rer Demo­kra­tie so viel Gleich­gül­tig­keit ent­ge­gen­brin­gen kön­nen.

Doch nun zu den ein­zel­nen Par­tei­en.

  1. CDU und CSU

Die CDU/CSU hat sich wie­der etwas berap­pelt. Pro­fi­tiert sie dabei nur von der Schwä­che der Ampel­par­tei­en oder hat das auch mit dem neu­en Grund­satz­pro­gramm zu tun, wie Rena­te Köcher vom Insti­tut für Demo­sko­pie Allens­bach[2] ver­mu­tet?

Die CDU/CSU pro­fi­tiert von den Unzu­frie­de­nen. Fried­rich Merz hat es geschafft, sich als Alter­na­ti­ve zur Regie­rung dar­zu­stel­len – aller­dings er als Per­son und weni­ger pro­gram­ma­tisch. Er bin­det Kern­an­hän­ger sei­ner Par­tei und zudem hat er ehe­ma­li­ge FDP-Wäh­ler gewon­nen. Ins­ge­samt bleibt die Uni­on unter ihren Mög­lich­kei­ten. Der all­ge­mei­ne Wäh­ler liest kei­ne Par­tei­pro­gram­me. Daher ist die Kom­mu­ni­ka­ti­on der Par­tei­spit­ze und ein ein­heit­li­ches Auf­tre­ten wich­ti­ger.

Die Uni­on wird die K‑Frage zu klä­ren haben. So rich­tig über­zeugt sind die poten­ti­el­len Wähler*innen der CDU weder von Merz noch von Söder. Was ist Ihre Pro­gno­se? Was muss ein erfolg­rei­cher Uni­ons­kan­di­dat aus­strah­len?

Fried­rich Merz ist Stär­ke und Schwä­che zugleich. Er kann ent­täusch­te Wäh­ler der FDP an sich bin­den, jedoch kei­ne Wäh­ler der SPD oder der Grü­nen. Er ver­kör­pert ein siche­res Auf­tre­ten, schafft es aber nicht die Wech­sel­wäh­ler von sich zu über­zeu­gen. Soll­ten die aktu­el­len Umfra­ge­wer­te der Uni­on kon­stant blei­ben, ist es wahr­schein­lich, dass Herr Merz der Kanz­ler­kan­di­dat wird. Wenn jedoch die Umfra­ge­wer­te anfan­gen zu sin­ken oder die Wahl­er­geb­nis­se bei der Euro­pa­wahl und bei den Land­tags­wah­len im Herbst unter den Erwar­tun­gen zurück­blei­ben, könn­ten die Kar­ten neu gemischt wer­den. Dann könn­te Hen­drik Wüst ins Geschäft kom­men.

  1. Grü­ne

Die Grü­nen muss­ten sich ja für eine Pro­gramm­par­tei in den Kri­sen immer wie­der beson­ders fle­xi­bel zei­gen (Lauf­zeit­ver­län­ge­rung der Atom­kraft­wer­ke, LNG-Gas). Sie muss­ten auch schwie­ri­ge Kom­pro­mis­se ein­ge­hen, so in der Flücht­lings­po­li­tik und in der Haus­halts­po­li­tik (Schul­den­brem­se). Sie ste­hen aber von den drei Ampel­par­tei­en noch am bes­ten da. Wor­an liegt das?

Rena­te Köcher vom Allens­bach-Insti­tut sag­te über die Grü­nen: „Die­se sind eine Pro­gramm­par­tei, der man abnimmt, dass sie ihre Zie­le nicht aus den Augen ver­liert, auch bei man­chen Kom­pro­mis­sen.“ Ist das ein Punkt?

Die Grü­nen-Wäh­ler sehen ihre Par­tei als die Füh­rungs­kraft in der Ampel an. Zudem haben die Grü­nen eine ver­hält­nis­mä­ßig gro­ße Stamm­wäh­ler­schaft von rund 12 Pro­zent, die sie gut errei­chen. Wer grün gewählt hat glaubt, dass Grü­ne für ihre Zie­le kämp­fen. Zudem stär­ken die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit der FDP die Grü­nen. Dar­über hin­aus gibt es für ent­täusch­te Grü­nen-Wäh­ler kei­ne wirk­li­che Alter­na­ti­ve. Von der Ampel ent­täusch­te FDP-Wäh­ler haben immer noch die Uni­on als Alter­na­ti­ve. All­ge­mein kann man bei den Grü­nen sagen, dass die eige­nen Par­tei­mit­glie­der grö­ße­re Pro­ble­me mit Kom­pro­mis­sen haben und daher stär­ker ent­täuscht sind als der Grü­nen­wäh­ler an sich. In Baden-Würt­tem­berg ist zudem span­nend zu beob­ach­ten, dass dort Wech­sel­wäh­ler, die unzu­frie­den sind, eher zur Uni­on wan­dern und so das Poten­ti­al der Grü­nen in der Mit­te der Gesell­schaft sinkt. Der Kipp­punkt für die poli­ti­sche Mit­te gegen­über den Grü­nen war das Hei­zungs­ge­setz. Dadurch sind Zwei­fel gewach­sen und der Ideo­lo­gie­ein­druck war wie­der da. Gro­ße Zustim­mung erhal­ten die Grü­nen bei ihrem Kern­the­ma Umwelt, nicht aber für The­men, die vie­len Grü­nen dar­über hin­aus wich­tig erschei­nen, so dem Gen­dern.

  1. SPD

Bun­des­kanz­ler Scholz wird als nicht prä­sent wahr­ge­nom­men und ihm wird feh­len­de Füh­rungs­kom­pe­tenz vor­ge­wor­fen. Josch­ka Fischer sprach vom „ver­bis­se­nen Schwei­gen“ des Kanz­lers. Die Kri­se der gegen­wär­ti­gen Regie­rung sei zu gro­ßen Tei­len eine Kanz­ler­kri­se. Ist dies das ent­schei­den­de Pro­blem der SPD (Hin­weis: Der SPD-Vor­sit­zen­de Kling­beil for­der­te sei­ne Par­tei und den Kanz­ler dazu auf, offen­si­ver zu agie­ren!)? Oder ist es (auch) so, dass es das klas­si­sche Wäh­ler­kli­en­tel der SPD ein­fach kaum mehr gibt?

Die SPD befin­det sich seit 20 Jah­ren in einem kon­ti­nu­ier­li­chen Nie­der­gang, mit Aus­nah­me der Bun­des­tags­wahl 2021. Sie besitzt kei­ne gro­ße Stamm­wäh­ler­schaft mehr, das Stamm­kli­en­tel fehlt und sie wird nur noch tem­po­rär und über­wie­gend aus der älte­ren Gene­ra­ti­on her­aus gewählt. Die aktu­el­len Umfra­ge­wer­te sind erst ein­mal durch die Ent­täu­schung über die Ampel begrün­det. Scholz hält nicht, was sich sei­ne Wäh­ler von ihm ver­spro­chen haben und er bie­tet kei­ne Ori­en­tie­rung. Mer­kel war in die­sem Punkt bes­ser: Sie hat Rich­tungs­ent­schei­dun­gen bes­ser kom­mu­ni­ziert. Dar­über hin­aus wirkt die SPD nach lan­gen Regie­rungs­jah­ren aus­ge­laugt. Allei­ne mit Sozi­al­po­li­tik kann sie nicht gewin­nen.

In der SPD spe­ku­lie­ren eini­ge dar­auf, dass sich das Phä­no­men von Sep­tem­ber 2021 bei der Bun­des­tags­wahl 2025 wie­der­holt: Kurz vor der Wahl geht es für die SPD wie­der (über­ra­schend) steil nach oben. Gibt es dafür eine Wahr­schein­lich­keit?

Die­se Ent­wick­lung ist 2025 eher unwahr­schein­lich, da die Leu­te Olaf Scholz als Kanz­ler erlebt haben und er die Erwar­tun­gen nicht erfüllt hat. Aller­dings hän­gen Wahl­chan­cen der SPD auch von der Aus­wahl des Kanz­ler­kan­di­da­ten der Uni­on ab. Tritt Fried­rich Merz an, kann die SPD eher Wäh­ler gewin­nen, als wenn Hen­drik Wüst oder Dani­el Gün­ther für die Uni­on an den Start gehen wür­den. Die SPD ist wie­der auf die Schwä­che der Kon­kur­renz ange­wie­sen.

  1. AfD

Der Ein­zug der AfD hat die Repu­blik durch­ge­wir­belt. Im Bun­des­tag fal­len sie durch Pro­vo­ka­tio­nen und Grenz­über­schrei­tun­gen auf. Der Blick auf die Rea­li­tä­ten in ande­ren euro­päi­schen Län­dern und die anhal­tend hohe Umfra­ge­wer­te legen nahe, dass die Par­tei ein aus­rei­chend exis­tenz­si­chern­des Kli­en­tel anspricht und die AfD sich eta­bliert hat.

Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Wolf­gang Mer­kel sag­te kürz­lich in einem Inter­view[3]: „Wir erle­ben einen lang­an­hal­ten­den Trend zur Pola­ri­sie­rung. Die Bür­ger sind dazu bereit, sich bei gro­ßen Streit­fra­gen in feind­li­chen Lagern zu ver­ram­meln. Die­ser Trend zum Freund-Feind-Den­ken ist kein rein deut­scher, son­dern über­all in der west­li­chen Welt zu beob­ach­ten. In den USA ist er beson­ders fort­ge­schrit­ten. (…) Beson­ders vie­le Likes gibt es, wenn sie ande­re anpö­beln und aus­gren­zen. Das wird dort gelernt.“

Sehen Sie das auch so? Lässt sich die­se Pola­ri­sie­rung, die das Ver­ständ­nis für die jeweils ande­re Sicht erheb­lich erschwert, durch­bre­chen?

In der poli­ti­schen Mit­te ist kei­ne gro­ße Pola­ri­sie­rung zu erken­nen, sie ist teil­wei­se aber durch­aus beein­fluss­bar. Es herrscht ein brei­ter Wil­le zum Mit­ein­an­der. Pola­ri­sie­rungs­un­ter­neh­men wie die AfD, ver­su­chen eine vor­han­de­ne Miss­stim­mung zu nut­zen und zu ihren Guns­ten umzu­len­ken. Die AfD lebt vom Freund-Feind-Den­ken, von der Pola­ri­sie­rung und der Schuld­zu­wei­sung. Dies kommt vor allem gut in den benach­tei­lig­ten Sei­ten der Gesell­schaft an und dort, wo die Angst vor der Zukunft, vor Abstieg und Ver­lus­ten beson­ders aus­ge­prägt ist. Gera­de im Osten gibt es oft das Gefühl, Bür­ger zwei­ter Klas­se zu sein. Dar­aus ent­steht dann der Gedan­ke, dass wenn man AfD wählt, die Poli­ti­ker in Ber­lin die­se gefühl­te Ungleich­be­hand­lung wahr­neh­men wür­den. Dabei spielt auch das Vor­ur­teil von der Abge­ho­ben­heit der Bun­des­po­li­ti­ker in Ber­lin eine Rol­le.

Selbst ande­ren Scharf­ma­chern in Euro­pa ist die AfD inzwi­schen offen­bar zu radi­kal. So spricht bei­spiels­wei­se Le Pen (Frank­reich) davon, es gebe „kras­se Mei­nungs­un­ter­schie­de“ und stellt die gemein­sa­me Frak­ti­on im Euro­pa­par­la­ment in Fra­ge. Aus Ita­li­en wird Minis­ter­prä­si­den­tin Melo­ni damit zitiert, es gebe „unüber­brück­ba­re Dif­fe­ren­zen“ zur AfD. Auch die spa­ni­sche Vox-Par­tei geht auf Distanz. Dabei geht es um die EU-Mit­glied­schaft, teils auch um das Ver­hält­nis zu Russ­land.[4]

Wie sind die­se Distan­zie­run­gen von der AfD zu bewer­ten? Sehen die ande­ren euro­päi­schen Rechts­par­tei­en ihre eige­nen Wahl­chan­cen gefähr­det, soll­ten sie sich nicht von der Radi­ka­li­tät der AfD distan­zie­ren?

Es ist zu erken­nen, dass sich ande­re west­eu­ro­päi­sche Rechts­par­tei­en zuneh­mend ent­ra­di­ka­li­sie­ren. Bei der AfD hin­ge­gen ist ein gegen­tei­li­ger Pro­zess zu erken­nen und die mode­ra­ten Kräf­te wer­den immer wei­ter zurück­ge­drängt. Das Mus­ter der Radi­ka­li­sie­rung funk­tio­niert beson­ders gut mit der Unzu­frie­den­heit, wie sie aktu­ell in Deutsch­land vor­han­den ist.

  1. FDP

Rena­te Köcher, Che­fin des Allens­bach-Insti­tuts, sagt über die FDP, sie wer­de in der Koali­ti­on zu sehr als Ver­hin­de­rin und zu wenig mit posi­ti­ver Agen­da wahr­ge­nom­men.[5] Sehen Sie das auch so?

Die Wäh­ler erken­nen zu wenig die Hand­schrift der FDP in der Regie­rung und neh­men die FDP in der Regie­rung zu wenig wahr. Sie ist das libe­ra­le Kor­rek­tiv in der Regie­rung, besitzt aber kei­ne Rol­le, die über das Reagie­ren und Kor­ri­gie­ren hin­aus geht. Zudem wan­dern vie­le ent­täusch­te Wäh­ler der FDP zur Uni­on über. Die­se kön­nen gut mit Merz und Lin­ne­mann leben. Die Stamm­wäh­ler­schaft der FDP liegt bei drei bis vier Pro­zent.

Nach den schlech­ten Wahl­er­geb­nis­sen mit 5,0 Pro­zent in Hes­sen und 3,0 Pro­zent in Bay­ern führ­te die FDP im Dezem­ber einen Mit­glie­der­ent­scheid zum Aus­stieg aus der Ampel durch. Dort sprach sich die Mehr­heit mit 52,24 Pro­zent knapp nicht für einen Aus­tritt aus der Ampel-Koali­ti­on aus. Wie ist der Mit­glie­der­ent­scheid zu bewer­ten? Als Unent­schlos­sen­heit zwi­schen „Wir müs­sen regie­ren“ und „Oppo­si­ti­on wäre bes­ser“?

Die Mehr­heit der Par­tei­mit­glie­der will nicht mehr wei­ter­re­gie­ren. Jedoch ist Chris­ti­an Lind­ner inner­halb der Par­tei hoch ange­se­hen und die Mit­glie­der wol­len ihn nicht ver­lie­ren. Schei­tert die Regie­rung, wäre dies auch ein Schei­tern von Lind­ner. Daher haben vie­le Mit­glie­der, die gegen eine Fort­füh­rung der Koali­ti­on sind, erst gar nicht mit abge­stimmt.

Wel­che Erwar­tun­gen haben die FDP-Wäh­le­rin­nen? Wie wich­tig ist ihnen, dass die FDP regiert?

Was die Wäh­ler der FDP eint: Sie wol­len, dass der Staat weni­ger in Erschei­nung tritt. Der Staat soll die Leu­te machen las­sen. Hier aber kann die FDP in der Ampel­ko­ali­ti­on nicht viel errei­chen.  

  1. Lin­ke und BSW

Wir bespre­chen bei­de Par­tei­en gemein­sam, da sie sich nach der fak­ti­schen Tei­lung neu fin­den müs­sen und die Sor­tie­rung noch läuft.

Das „Bünd­nis Sarah Wagen­knecht“ (BSW) weist eini­ge Beson­der­hei­ten auf: Die neue Par­tei ist so sehr auf eine Per­son zuge­spitzt wie kei­ne ande­re. Eini­ge spre­chen von einer Top-Down-Hier­ar­chie[6]. Die pro­mi­nen­tes­ten Vertreter*innen kom­men aus dem Wes­ten (oder ver­tre­ten Wahl­krei­se im Wes­ten). Wohl auch aus der Angst her­aus, Que­ru­lan­ten anzu­zie­hen, wirbt das neue Bünd­nis kaum um neue Mit­glie­der und ver­zö­gert gar die Bear­bei­tung von Auf­nah­me­an­trä­gen.[7] Wahl­um­fra­gen erge­ben ein höchst wider­sprüch­li­ches Bild über die mög­li­chen Wahl­chan­cen. „Die Lin­ke“ grenzt sich ziem­lich deut­lich von der neu­en Kon­kur­renz aus den frü­he­ren eige­nen Rei­hen ab. „Das Bünd­nis gleicht eher einem Per­so­nen­kult als einer demo­kra­ti­schen Par­tei“, so Lin­ken-Vor­sit­zen­de Wiss­ler.

Für wie groß schät­zen Sie die Wähler*innenpotentiale bei­der Par­tei­en ein? Wie groß ist dabei die Schnitt­men­ge, also der Anteil derer, die sich mit der Ent­schei­dung zwi­schen bei­den schwer­tun?

Es gab in der Lin­ken schon lan­ge zwei Lager. Das kul­tu­rel­le Lager und das öko­no­mi­sche Lager um Wagen­knecht. Das BSW bedient bei­de Lager und greift somit zwei Wäh­ler­po­ten­tia­le ab. Die deut­lichs­te Dif­fe­renz zwi­schen bei­den ergibt sich beim Migra­ti­ons­the­ma sowie beim Fokus auf Min­der­hei­ten. Zudem ist das BSW medi­al sehr auf Sarah Wagen­knecht aus­ge­rich­tet. Die bestehen­de Links­par­tei, die nun mehr aus dem kul­tu­rel­len Lager besteht, wird es in Zukunft schwer haben zu über­le­ben, da fast kei­ne Wäh­ler­grup­pen mehr übrig­ge­blie­ben sind. Zudem fehlt es an bekann­ten Per­so­nen. Am ehes­ten sind noch Chan­cen bei der jun­gen Bevöl­ke­rung in Groß­städ­ten wie Leip­zig oder ande­ren Uni­städ­ten zu sehen. Jedoch sind in die­sen Städ­ten auch die Grü­nen sehr stark.

Die aktu­el­le Stra­te­gie zum Schutz vor Unter­wan­de­rung des BSW, die Auf­nah­me von Neu­mit­glie­dern sehr selek­tiert durch­zu­füh­ren, kann bei ers­ten Wahl­er­fol­gen und dem damit ver­bun­de­nen Anstieg an Anträ­gen nicht auf­recht­erhal­ten wer­den. Ohne eine aus­rei­chen­de Anzahl an Mit­glie­dern kann kei­ne Par­tei funk­tio­nie­ren.  

Die Lin­ke war immer nur im Osten stark und auch beim BSW zeigt sich in Umfra­gen, dass die­se nur im Osten eine Rol­le spie­len könn­te. Besteht im Wes­ten durch das „Dop­pel­an­ge­bot“ über­haupt die Chan­ce, dass eine der Par­tei­en die Fünf-Pro­zent-Hür­de über­springt oder ist es wahr­schein­li­cher, dass bei­de bei 2–4 Pro­zent hän­gen blei­ben?

Im Osten bestehen tat­säch­lich die grö­ße­ren Chan­cen als im Wes­ten. Es gibt jedoch auch in struk­tur­schwa­chen Regio­nen wie in Tei­len des Saar­lan­des oder von NRW eine Chan­ce für eine Poli­tik, die stark auf Umver­tei­lung setzt. Das BSW könn­te bun­des­weit die bes­se­ren Chan­cen haben. Jedoch bedarf es auch orga­ni­sa­to­ri­sches Geschick sei­tens des BSW, die not­wen­di­gen Struk­tu­ren in den Län­dern auf­zu­bau­en.

  1. Aus­blick

Wir erle­ben eine Wel­le sehr star­ker Demons­tra­tio­nen gegen Rechts­extre­mis­mus und für unse­re Demo­kra­tie. Kön­nen sol­che gro­ßen Demos Wahl­ent­schei­dun­gen beein­flus­sen oder aber hel­fen, die Wahl­be­tei­li­gung (zu Las­ten der AfD) zu erhö­hen?

Ja, dies ist mög­lich. Eine Poli­ti­sie­rung und Emo­tio­na­li­sie­rung zuguns­ten der Demo­kra­tie füh­ren auch zu einer Mobi­li­sie­rung. Die Fra­ge ist jedoch, inwie­weit die Pro­tes­te lang­fris­tig Bestand haben und mög­li­cher­wei­se Wir­kung zei­gen. Wenn sie nur punk­tu­ell von kur­zer Dau­er sind, haben sie wenig Ein­fluss. Wenn sie sich jedoch ver­s­tä­ti­gen und lang­fris­tig Bestand haben, ist es durch­aus mög­lich, dass sie dazu bei­tra­gen, die Wahl­be­tei­li­gung zu erhö­hen.

[1] Mat­thi­as Jung von der „For­schungs­grup­pe Wah­len“ im Tages­spie­gel-Inter­view v. 02.02.2024

[2] Süd­ku­rier v. 30.12.2023

[3] Süd­west­pres­se v. 31.01.2024

[4] Ber­li­ner Mor­gen­post v. 31.01.2024

[5] Süd­ku­rier v. 30.12.2023

[6] Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Wolf­gang Schroe­der in der Stutt­gar­ter Zei­tung vom 27.01.2024.

[7] Frank­fur­ter Rund­schau v. 02.02.2024