Stadtentwicklung und Fahrradpolitik „Made in Denmark“
Bericht meiner Kopenhagen-Reise am 10. und 11. Dezember 2014
Kopenhagen ist weltweit führend in den Bereichen Fahrradpolitik und Citylogistik. Jeden Tag werden in der Stadt über eine Million Kilometer mit dem Rad zurückgelegt. 55% der Einwohner benutzen das Fahrrad mindestens einmal pro Tag. 41% pendeln mit dem Rad zur Arbeit, Schule oder Universität – Tendenz steigend. Um mir ein eigenes Bild dieser Entwicklungen zu machen und mich mit Stadtplanungs- und FahrradexpertInnen auszutauschen, habe ich die dänische Hauptstadt am 10. und 11. Dezember bereist. Die dänische Fahrradkultur ließ sich auch zu dieser Zeit hautnah erleben, da in Kopenhagen das ganze Jahr über Fahrradhochsaison ist (über 70% der RadlerInnen nutzen das Rad auch im Winter regelmäßig).
Einen ersten Eindruck über den Stellenwert des Radverkehrs in Kopenhagen lieferten schon die Fahrradabstellplätze am Vorplatz des Hauptbahnhofs: In vielen Reihen und auf mehreren Etagen sind hier unzählige Räder platziert. Inhaltlich ging es am Mittwochmorgen mit einem Gespräch mit den Stadtplanungs- und FahrradspezialistInnen Henriette Vamberg und Lars Gemzøe von „Gehl Architects“ los.
Das im Jahr 2000 von Jan Gehl gegründete Verkehrsberatungsunternehmen ist entscheidend an der Wandlung Kopenhagens von einer Auto- zur Fahrradstadt beteiligt. Neben Kopenhagen berät das Unternehmen auch Metropolen wie New York und Mexico City bei der Weiterentwicklung ihrer Infrastruktur.
Im Zentrum des Gesprächs stand die Frage, durch welche Maßnahmen und Instrumente Kopenhagen der Wandel zur Fahrradstadt gelang. Die ExpertInnen hoben zunächst die Bedeutung umfassender Daten über die Aufteilung und Nutzung des städtischen Raumes hervor. Hierdurch könnten augenscheinliche verkehrliche Probleme in Großstädten (z.B. Verschwendung öffentlichen Raums, wenig Flächen für Fußgänger und Radfahrer) sowie die daraus folgende Notwendigkeit zur Umgestaltung von Stadträumen durch Fakten belegt werden. Häufig würden Stadtverwaltungen in diesem Bereich jedoch über eine zu dünne Datenlage verfügen.
Beim Aus- oder Umbau der Radinfrastruktur spielen laut Gehl Architects Sicherheitsfragen eine zentrale Rolle. Um mehr Menschen auf das Rad zu locken, sollte das Sicherheitsgefühl der RadfahrerInnen in den Vordergrund gestellt werden. Daher werden in Kopenhagen die häufig vier Meter breiten Fahrradwege nicht auf der Autofahrbahn geführt, sondern auf einer separaten Spur, die durch vier bis neun Zentimeter hohe Bordsteine von Autofahrbahn und Gehsteig getrennt ist. Diese und andere Maßnahmen haben dazu beigetragen, dass die Anzahl der schwer verunglückten RadfahrerInnen in Kopenhagen seit 1995 deutlich gesunken ist, während der Radverkehr in der gleichen Zeit stark zugenommen hat.
Den Anstieg des Radverkehrs führten die ExpertInnen zudem auf den parteiübergreifenden politischen Rückhalt zurück: In Kopenhagen besteht seit der Ölkrise in den 1970er Jahre der politische Konsens, dass die Förderung der Fahrradpolitik im allgemeinen Interesse ist. Dies ermöglicht die Verabschiedung von langfristigen politischen Plänen, wie zuletzt die Fahrradstrategie der Stadt Kopenhagen 2011–2025 mit ambitionierten Zielsetzungen. Welche große Bedeutung der politische Wille für die Radverkehrsförderung hat, machten meine GesprächspartnerInnen auch anhand der aktuellen Entwicklungen in New York deutlich: Im Einklang mit der anpackenden amerikanischen Mentalität wurden dort seit 2008 so viele Radwege geschaffen, dass das Radnetz heute etwa die gleiche Länge hat wie in Kopenhagen (allerdings bei einem sehr viel größeren Stadtgebiet).
Der nächste Termin führte mich zum dänischen Radfahrerverband. Hier traf ich mich mit dessen Direktor Klaus Bondam, der von 2006 bis 2009 der für Verkehr zuständige Bürgermeister Kopenhagens war. Der dänische Radfahrerverband wurde 1905 gegründet und ist damit eine der ältesten Fahrradorganisationen der Welt. Er setzt sich für die Interessen der etwa 4,5 Millionen RadfahrerInnen Dänemarks ein (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 5,6 Millionen).
Während unseres Gesprächs bezeichnete Bondam die Heranführung von Kindern an das Fahrradfahren als Schlüssel für eine erfolgreiche Förderung des Radverkehrs. Unter anderem Fahrradfahrkurse in Schulen und die Durchführung von breitangelegten Radfahrkampagnen (z.B. „Alle Kinder fahren Fahrrad“) würden in Dänemark eine große Wirkung entfalten. Wie wir auch mit eigenen Augen erfahren konnten, werden in Kopenhagen Kinder aber auch auf eine andere Art an das Fahrradfahren herangeführt: Die Mitnahme von Kindern in speziellen Lastenrädern ist sehr verbreitet und ersetzt häufig das Auto (28% der Familien mit mindestens zwei Kindern nutzen ein Lastenrad). Vor Kitas sieht man demnach auch sehr viele Eltern ihre Kinder mit dem Lastenrad abliefern und nicht wie oft in Deutschland mit dem SUV.
Foto: Neben dem aus der Kita abgeholten Kind findet auch noch der Weihnachtsbaum Platz auf dem Lastenrad.
Ferner trägt laut Bondam die umfassende Öffentlichkeitsarbeit der Radverbände in Dänemark zur positiven Entwicklung des dortigen Radverkehrs bei. Neben groß angelegten Fahrradkampagnen (an landesweiten Kampagnen nehmen jährlich ca. 300.000 Menschen teil) hätte auch die Fahrradnutzung von Prominenten (u.a. die Königsfamilie) Signalwirkung und würde regelmäßig für positive Presse sorgen. Ein weiterer Meilenstein in der Vermarktung des Radverkehrs in Dänemark ist die 2009 vom dänischen Radfahrerverbund in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden gegründete „Cycling Embassy of Denmark“ (Dänische Fahrradbotschaft). Diese hat zum Ziel, Fahrradwissen zu bündeln und das dänische Fahrradmodell weltweit zu fördern. Wichtig für die Stärkung des Radverkehrs sind laut Bondam außerdem unkomplizierte und günstige Mitnahmemöglichkeiten von Fahrrädern im ÖPNV. Dies sei nicht nur im Interesse der RadfahrerInnen, sondern auch der ÖPNV-Betreiber, wie die Erfahrungen in Kopenhagen zeigen: Die kostenlose Radmitnahme in den Nahverkehrszügen der Stadt führte zu einer Erhöhung der ÖPNV-Passagiere um 8%.
Am Donnerstagmorgen tauschte ich mich mit Monica Magnussen (Projektmanagerin für Stadtentwicklung der Stadtverwaltung) über die aktuellen, stadtplanerischen Maßnahmen von Kopenhagen aus. Magnussen unterstrich hierbei die Bedeutung von langfristigen, politischen Zielsetzungen, um grundlegende infrastrukturelle Veränderungen zu erreichen. Das übergeordnete Ziel der Stadt Kopenhagen lautet, bis 2025 vollständig CO2-neutral zu sein. Um dies zu erreichen, setzt Kopenhagen im Verkehrsbereich auf den weiteren Ausbau des Radverkehrs. Die von der Stadt im Jahr 2011 verabschiedete Fahrradstrategie bis 2025 legt die spezifischen Maßnahmen und Zielsetzungen fest. Bis 2025 soll beispielsweise die Reisezeit um mindestens 15% abnehmen und 90% aller RadfahrerInnen sollen sich sicher fühlen. Ein weiteres Ziel ist, dass bis 2015 mindestens 50% der Einwohner ihre Wege zur Arbeit oder Schule mit dem Fahrrad zurücklegen (2013 waren es 41%). Um die Reisezeiten zu verringern und das Berufspendeln mit dem Rad zu fördern, errichtet Kopenhagen zurzeit ein Radschnellwegnetz („Cycelsuperstier“). Aktuell sind neun ca. 20km lange Schnellwege in Arbeit, die die Vororte der Stadt besser mit dem Zentrum verbinden sollen. Zwei Radschnellwege sind bereits in Betrieb. Zudem schaltet Kopenhagen seine Ampeln auf vielbefahrenen Straßen zunehmend auf „grüne Fahrradwelle“. Um einen weiteren Anreiz zu schaffen, dass die Menschen auch lange Distanzen mit dem Rad zurücklegen, hat die Stadt 2013 ein Fahrradverleihsystem mit 1260 modernen, online-reservierbaren E‑Rädern eingerichtet.
Aus Sicht einer städtischen oder nationalen Verwaltung sei der Radverkehr insbesondere aus gesundheitlichen und sozioökonomischen Gründen zu fördern. Pro geradeltem Kilometer spart sich der dänische Staat Ausgaben in Höhe von 20 Cent. Für die Stadt Kopenhagen insgesamt ergeben sich dadurch jährliche Einsparungen von ca. 230 Millionen Euro. Auch der Einzelhandel unterstützt mittlerweile die Umwandlung von Autoparkplätzen in Fahrradwege, weil die Vergangenheit gezeigt hat, dass die Geschäfte davon profitieren. Als weiteres wichtiges politisches Instrument zur Radverkehrsförderung bezeichnete Magnussen regelmäßige Datenerhebungen über die Entwicklung des Radverkehrs. Die Stadt Kopenhagen veröffentlicht seit 1996 alle zwei Jahre einen „bicycle account“, um die wichtigsten Daten zur Nutzung des Radverkehrs zu sammeln und Vergleichswerte zu schaffen. Im „bicycle account“ werden unter anderem die Ausgaben für den Radverkehr, die Länge des Radwegenetzes, die Anzahl von RadfahrerInnen und Unfalldaten erhoben. Um die Öffentlichkeit zu erreichen, ist laut Magnussen großer Wert auf eine gute Verständlichkeit solcher Studien zu legen (einfache Sprache, ansprechendes Design).
Neben den politischen Gesprächen habe ich mir aber auch selbst ein Leihrad gemietet, um das Radfahren in Kopenhagen hautnah zu erfahren. Der Fahrkomfort auf zweispurigen, vier Meter breiten Radwegen ist enorm. Auffallend war für mich außerdem die Entspanntheit, mit der die Verkehrsteilnehmer in Kopenhagen beispielsweise im Vergleich zu Berlin unterwegs sind. Meine umfangreiche Radtour führte mich natürlich auch an den radverkehrlichen Highlights der Stadt vorbei: Die in nord-westlicher Richtung aus der Stadt führende Hauptstraße Nørrebrogade wurde in den letzten fünf Jahren komplett für den Radverkehr umgebaut und bietet in beide Richtungen zweispurige Radwege (hierfür wurde die Autofahrbahn von vier auf zwei Spuren reduziert). An ihrem Ende mündet die Nørrebrogade in der Dronning Louises-Brücke, die an stark frequentierten Tagen bis zu 40.000 RadfahrerInnen passieren. Die auf der Brücke angebrachte Anzeigetafel hatte an einem stürmischen Dezembermittag bereits über 3800 RadlerInnen registriert.
Im Anschluss bin ich sowohl einige Kilometer einer „grünen Fahrradroute“ durch die Stadt abgefahren als auch ein Stück des Radschnellweges, der die südwestlichen Vororte mit der Stadt verbindet. Ein weiteres Prunkstück der Kopenhagener Radinfrastruktur ist die im Juni 2014 eröffnete „Cykelslange“. Die Fahrradschlange führt die RadlerInnen in 4 bis 7 Meter Höhe über das innere Hafenbecken und verbindet den Stadtteil Christianshavn mit dem Zentrum. Durch die integrierte Beleuchtung ist das Befahren auch in der Nacht sicher.
Meine Reise nach Kopenhagen hat mir deutlich gemacht, was radverkehrlich alles möglich ist, wenn sich politischer Wille mit ökologischem Bewusstsein und stadtplanerischer Kompetenz paart. Auch in Deutschland sind viele der in Dänemark ergriffenen Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs möglich. Die klimatischen oder topographischen Bedingungen einer Stadt sind keine Entschuldigung für das Ausbremsen des Radverkehrs.