Atomkraftwerke für den Bedarfsfall?

06.09.2022; ergänzt am 10.09.2022

AKW in Frankreich sorgen für Ungewissheit

Das Ergeb­nis des Stress­tests für den Strom­markt liegt vor. Die sich dar­aus erge­ben­de Emp­feh­lung des Wirt­schafts­mi­nis­ters führt zu hef­ti­gen Dis­kus­sio­nen: Die bei­den süd­deut­schen Atom­kraft­wer­ke Neckar­west­heim 2 und Isar 2 sol­len für den Bedarfs­fall bis zum Früh­ling bereit­ge­hal­ten wer­den.

Vor­ab die erfreu­li­che Nach­richt: Der zwei­te, ver­schärf­te Stress­test hat eine gute Ver­sor­gungs­si­cher­heit im Strom­sys­tem attes­tiert. Wir haben in Deutsch­land auch ohne Atom­kraft im Grund­satz genü­gend Strom. Die Lage auf dem Strom­markt ist jedoch aus vie­len Grün­den unüber­sicht­lich und schwer kal­ku­lier­bar gewor­den: Vie­le Men­schen haben sich elek­tri­sche Heiz­lüf­ter gekauft, die sehr viel Strom ver­brau­chen (und kei­nen Sinn machen und teu­rer sind als Hei­zen mit Erd­gas), nied­ri­ge Was­ser­stän­de füh­ren zu Schwie­rig­kei­ten beim Koh­le­trans­port und nied­ri­gen Erträ­gen der Was­ser­kraft in Deutsch­land, aber auch in ande­ren euro­päi­schen Län­dern – sogar in Nor­we­gen. Der größ­te Unsi­cher­heits­fak­tor im längst euro­päi­sier­ten Strom­markt jedoch liegt in Frank­reich: Seit Mona­ten ist nur ein Teil der dor­ti­gen Atom­kraft­wer­ke in Betrieb. Mal fehlt Kühl­was­ser für den Betrieb, mal fin­den Revi­si­ons­ar­bei­ten kein Ende. Aktu­ell sind von den ins­ge­samt 56 Atom­kraft­wer­ken in Frank­reich 32 nicht aktiv und es feh­len 57 Pro­zent der voll­stän­di­gen ato­ma­ren  Strom­ge­win­nung, so der staat­li­che Ener­gie­kon­zern EDF. Die Pro­gno­se ist, dass bis zum Anfang des Win­ters bis auf fünf Atom­kraft­wer­ke alle am Netz sein sol­len.[1]

Soll­te das nega­tivs­te Sze­na­rio, das im Stress­test unter­sucht wor­den war, trotz sei­ner Unwahr­schein­lich­keit tat­säch­lich ein­tre­ten, kann eine Strom­lü­cke ent­ste­hen – und vor allem eine Situa­ti­on der Netz­in­sta­bi­li­tät ein­tre­ten. Ver­ant­wort­li­ches Han­deln muss sich auch dar­auf vor­be­rei­ten. Dies bedeu­tet, dass dann auf kei­ne Poten­tia­le für die Strom­erzeu­gung ver­zich­tet wer­den kann. Wir wol­len und kön­nen uns nicht auf das „Prin­zip Hoff­nung“ ver­las­sen, son­dern müs­sen auf alles, auch das Zusam­men­tref­fen aller nega­ti­ver Fak­to­ren, vor­be­rei­tet sein.

Wir machen uns als Grü­ne die Abwä­gung und letzt­lich die Ent­schei­dung alles ande­re als ein­fach. Wir sind auch aus der Anti-Atom-Bewe­gung her­aus ent­stan­den. Wie rich­tig wir mit dem Aus­stiegs­kurs lagen und lie­gen, wur­de lei­der immer wie­der bewie­sen: Har­ris­burg, Tscher­no­byl, Fuku­shi­ma, unge­klär­te Ent­sor­gungs­fra­gen, unzu­ver­läs­si­ger Betrieb (sie­he Frank­reich). Zwei der ver­blie­be­nen drei deut­schen Atom­kraft­wer­ke betriebs­fä­hig zu erhal­ten und im Bedarfs­fall Strom erzeu­gen zu las­sen erscheint mir eine schwie­ri­ge, aber hin­nehm­ba­re und ver­ant­wort­li­che Ent­schei­dung in einer abso­lu­ten Aus­nah­me­si­tua­ti­on zu sein. Das drit­te Atom­kraft­werk liegt im Nor­den, wo es gera­de in den Win­ter­mo­na­ten viel Wind­strom gibt und zudem kein Nied­rig­was­ser die Koh­le­trams­por­te erschwert. Zudem ist man­gels aus­rei­chen­der Netz­ka­pa­zi­tä­ten (von Bay­ern eben­so blo­ckiert wie der Aus­bau der Wind­ener­gie!) der Strom­trans­port in den Süden nicht jeder­zeit im erwünsch­ten Umfang mög­lich. So funk­tio­niert der Reser­ve­be­trieb: Die Bun­des­netz­agen­tur rich­tet ein Moni­to­ring ein, ana­ly­siert also gemein­sam unter ande­rem mit den Über­tra­gungs­netz­be­trei­bern die Situa­ti­on auf dem Strom­markt. Auf die­ser Basis wird ent­schie­den, ob ein oder zwei Atom­kraft­wer­ke für die Strom­ver­sor­gung bzw. die Netz­sta­bi­li­tät benö­tigt wird/werden. Fällt die Ent­schei­dung für den Abruf der Reser­ve, läuft das Atom­kraft­werk oder lau­fen die Atom­kraft­wer­ke durch­ge­hend bis längs­tens Mit­te April. Es ist also kein mehr­fa­ches Hoch- und Her­un­ter­fah­ren vor­ge­se­hen, zumal Atom­kraft­wer­ke dafür nicht geeig­net sind. Ein sol­ches Ver­fah­ren für einen Reser­ve­be­trieb war 2011 schon ein­mal im Atom­ge­setz vor­ge­se­hen gewe­sen – auch damals bereits für die Netz­sta­bi­li­tät in Süd­deutsch­land. Nach die­sem Win­ter wird die Ära der Atom­kraft­wer­ke in Deutsch­land been­det sein. Es wird kei­ne Ver­län­ge­rung des Betriebs mit­tels neu­er Brenn­stä­be geben.

Wir set­zen für die Zukunft mehr denn je auf Ener­gie­ef­fi­zi­enz, den schnel­len Aus­bau der erneu­er­ba­ren Ener­gien (inklu­si­ve Netz­aus­bau) und die Ent­wick­lung von Spei­cher­tech­no­lo­gien. Im Win­ter 2023/2024 wer­den über­dies Ter­mi­nals zur Ver­fü­gung ste­hen, die für eine Über­gangs­zeit mit LNG einen wei­te­ren Ener­gie­trä­ger bereit­stel­len. Zudem wird in Abstim­mung mit der Indus­trie das Last­ma­nage­ment wei­ter ver­bes­sert und der Bio­gas­de­ckel wird auf­ge­ho­ben.

[1] Ob dies gelingt wird viel­fach bezwei­felt. Für man­che Regio­nen wer­den “geplan­te Black­outs” dis­ku­tiert, bei denen der Strom zeit­wei­se abge­schal­tet wird. Dazu muss man wis­sen, dass in Frank­reich 70%  des Stroms aus AKW stammt und sehr vie­le Fran­zo­sen elek­trisch hei­zen. Deutsch­land lie­fert, wie auch ande­re Nach­bar­län­der Frank­reichs, seit Mona­ten Strom dort­hin. Der hohe Import­be­darf für Strom in Frank­reich ist ein wesent­li­cher Grund, wes­halb unse­re Gas­kraft­wer­ke oft lau­fen.