Kein Widerspruch in der Sache – Meine Antwort
Dass die Deutsche Bahn einen Beitrag auf meiner Homepage kommentiert, geschieht nicht alle Tage. Bei der Bewertung des Gleisbelegungsplans für den Tiefbahnhof von Stuttgart 21 war dem so. In der Sache gab es kein Widerspruch.
Was geschehen war: Ich hatte mir den Gleisbelegungsplan für Stuttgart 21 besorgt und die Verkehrsingenieure meines Büros einige beispielhafte Verspätungen simulieren lassen. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass bereits eine einzelne Verspätung schnell mal vier weitere Verspätungen nach sich ziehen kann, da der Bahnhof sehr eng belegt ist. Hier der Beitrag, um den es geht: https://www.matthias-gastel.de/stuttgart-21-aus-einem-verspaeteten-zug-werden-fuenf-verspaetete-zuege/
Die Deutsche Bahn hat nun kritisiert, ich hätte suggeriert, dass der neue Hauptbahnhof gleich nach seiner Eröffnung an seiner Kapazitätsgrenze operiere. Ich hatte aber ausdrücklich geschrieben, dass der Betrachtung nicht der Gleisbelegungsplan für den Inbetriebnahmefahrplan, sondern der des dritten Zielfahrplans für den Deutschlandtakt zugrunde gelegt worden war. Dazu, dass ein neuer Bahnknoten, der für 80 bis 100 Jahre geschaffen wird, mehr erfüllen können muss, als vielleicht (das haben wir nicht untersucht) den Anforderungen zur Betriebsaufnahme zu entsprechen, stehe ich weiterhin. Die Deutsche Bahn deutete in ihrem Brief zwar etwas von Optimierungsmöglichkeiten an, wurde hierbei aber nicht konkreter. Sie schrieb auch, dass es zu weniger Doppelbelegungen kommen werde, nannte aber keine Zahl. Dies sollte mit einer Reduzierung der Haltezeiten realisiert werden, da diese unnötig lange seien. Dabei ist doch ein wesentliches Merkmal eines integralen Taktfahrplans, dass Züge etwas länger halten, um bessere Umstiege zu ermöglichen. Dazu kommt, dass durch die längeren Haltezeiten auch die Reihenfolge in den Zu- und Abläufen geregelt wird. Erstaunlich fand ich auch die Äußerungen der Deutschen Bahn, wonach in Stuttgart zukünftig ein „S‑Bahn-ähnlicher Hochleistungsbetrieb“ geplant sei, ohne zu erklären, wie dies auf den Zulaufstrecken funktionieren soll, bei denen die gefahrenen Geschwindigkeiten unterschiedlich sein werden.
Den Ergebnissen unserer ausschnittsweisen Mini-Simulation wurde nicht widersprochen: Der Bahnhof kann den dritten Zielfahrplan und die darüber hinausgehenden Anforderungen für eine Verkehrswende nicht mit guter Betriebsqualität abbilden.
Meine Antwort fiel recht ausführlich aus:
Sehr geehrte Damen und Herren der Deutschen Bahn,
vielen Dank für Ihr Schreiben.
Wie Sie wissen, ist mir eine sachliche Diskussion gerade um dieses oft mit vielen Emotionen behaftete Thema gelegen. Polemik wäre einfacher, als die Verkehrsingenieure meines Büros an eine aufwändige Analyse des Gleisbelegungsplans und an beispielhafte Untersuchungen der Auswirkungen einzelner Zugverspätungen zu setzen. Mir ist bewusst, dass der endgültige Inbetriebnahmefahrplan noch nicht vorliegt. Um jegliches Missverständnis zu vermeiden, weise ich ein zweites und drittes Mal auf der Website ausdrücklich darauf hin, dass der Zielfahrplan die Basis für den Gleisbelegungsplan darstellt. Noch wichtiger ist jedoch der Hinweis, dass der neue Bahnknoten für eine mindestens 80-jährige Betriebszeit gebaut wird und hierfür der Zielfahrplan des Deutschlandtaktes eine Mindestvoraussetzung für die erforderliche Leistungsfähigkeit darstellt. Das maßgebliche Instrument für die Bemessung der mindestens erforderlichen Intrastruktur ist nicht der Inbetriebnahmefahrplan, sondern der dritte Zielfahrplan des Deutschlandtakts, um Potential für eine Weiterentwicklung des Bahnverkehrs bis zum Jahr 2030 und darüber hinaus zu bieten. Unter dem Planungsparadigma „Angebotsplanung vor Infrastrukturplanung“ halte ich also die Konzeptionierung des im dritten Zielfahrplans hinterlegten Fahrplans langfristig für die bestimmende Größe, an der sich die Infrastruktur bemessen muss. Nun ist der neue Stuttgarter Tiefbahnhof unbestreitbar vor den Konzeptionen des Deutschlandtakts entstanden. Trotzdem muss auch dieser Bahnhof den Anforderung dieses Taktfahrplans genügen – und, wo erforderlich, infrastrukturseitig angepasst werden. An andere Stellen des Bahnknotens, so mit der großen Wendlinger Kurve und zusätzlichen Gleisen im Nordzulauf, ist dies bereits gelungen.
Der Hauptbahnhof darf nicht länger der drohende Engpass bleiben. Aus den ausgeführten Gründen kann ich mir nicht vorstellen, wie ein “optimierter” Gleisbelegungsplan unter Berücksichtigung der hinterlegten Linien des dritten Zielfahrplans aussehen könnte, ohne dass dieser von den dort angestellten Überlegungen wesentlich abweicht. Gerade die von Ihnen angesprochenen langen Haltezeiten sind wesentliches Kennmerkmal eines integralen Taktfahrplans, wie der Deutschlandtakt auch einer sein soll. Eine Kürzung der Haltezeiten dieser Züge würde entsprechende Konsequenzen für die Anschlüsse und Umstiege im Knoten Stuttgart bedeuten, die bei einem optimierten Gleisbelegungsplan transparent darzustellen wären. Darüber hinaus ist zu beachten, dass in einem Knotenbahnhof auch die Zugfolge der Zu- und Abläufe geregelt wird. Daher ist es durchaus denkbar, dass eine lange Haltezeit eines Zuges auch dadurch zu rechtfertigen ist, dass ein schnellerer Zug mit gleichem Zu- und Ablauf zwar später ankommt, allerdings noch vor dem Zug mit der kürzere Haltezeit abfahren muss, um seine schnellere Fahrzeit realisieren zu können. Die Haltezeit ist nicht unbedingt mit der aus der Fahrgastwechselzeit resultierenden verkehrlichen Haltezeit gleichzusetzen. Wenn die Deutsche Bahn mit eigenen Gleisbelegungsplänen nachweisen kann, dass der Knoten Stuttgart auch langfristig – also unter Annahme des dritten Zielfahrplans – mit guter Qualität betrieben werden kann, bin ich an diesen Plänen sehr interessiert, inklusive der Darstellung, wie sich dies auf die Umsteigezeiten und Fahrzeiten der gesamten Linien auswirken würde. Noch besser wäre natürlich eine Untersuchung des Fahrplans auf seine Stabilität hin – ich gehe davon aus, dass dies angesichts der hohen Grundbelastung des Bahnhofs und der Zulaufstrecken zu keiner optimalen oder guten Betriebsqualität führen wird. Sollten Sie solche Ergebnisse vorliegen haben, wäre eine Offenlegung sicherlich zielführend. In diesem Zusammenhang verwundert mich auch die aufgestellte Hypothese, dass während der Haltezeit eines 10 Minuten haltenden Zuges stattdessen angeblich drei Züge ohne Doppelbelegung halten könnten. Selbst unter Einbezug des Potentials von ETCS halte ich dies bei Regional- und Fernverkehrszügen im Angesicht von alltäglichen Störungen und Verzögerungen und unter Berücksichtigung der nach den DB-Richtlinien anzusetzenden Haltezeiten für Knotenpunkte für eine betrieblich nicht realisierbare Aussage, insbesondere unter Betrachtung des Zu- und Ablaufs. Ein Bahnhof kann nicht nur an der theoretischen Machbarkeit gemessen werden, sondern muss auch ein Grundmaß an Resilienz insbesondere in Bezug auf die Verspätungsübertragung aufweisen. Wie dies in dem von Ihnen aufgestellten Beispiel tatsächlich funktionieren soll, würde mich sehr interessieren.
Ebenso verwundert mich ihre Aussage, mit ETCS einen S‑Bahn-ähnlichen Hochleistungsbetrieb im Stuttgarter Tiefbahnhof ermöglichen zu können. Dies mag für den Bereich des Bahnhofs gelten, in dem die Fahrtgeschwindigkeiten vergleichbar sind, nicht jedoch auf den Zulaufstrecken, bei dem sich auch mit ETCS die Fahrzeiten so unterscheiden, dass dies kapazitätsmindernd wirkt. Wir Grüne begrüßen den Einsatz von ETCS ausdrücklich, haben dies für den Knoten Stuttgart mit vorangetrieben, weisen jedoch darauf hin, dass ETCS nicht die Lösung aller Kapazitätsprobleme sein kann. Mittels einfacher Mittel konnten wissenschaftliche Mitarbeiter meines Büros Szenarien erstellen, in dem ein einzelner Zug mit fünf Minuten Verspätung Folgeverspätungen bei sechs anderen Zügen auslösen konnte. Dies ist keine Seltenheit, sondern wäre in der Realität Alltag – es sei denn, der Bahnbetrieb würde 2030 ohne Verspätungen auskommen. Sie erwähnen darüber hinaus, dass der Bahnhof flexibler bei Verspätungen sei. Dies ist sicherlich korrekt, jedoch dient ein Bahnhof vor allem der Pünktlichkeit der Fahrgäste und nicht der Züge. So würde es bei der von Ihnen besagten Flexibilität beispielsweise bei Bahnsteigwechseln zu größeren Bewegungen der Fahrgäste kommen, die das Gleis wechseln müssen. Der Zug könnte zwar dann möglicherweise planmäßig nach zwei Minuten Haltezeit abfahren, jedoch ohne die Fahrgäste, die aufgrund der gegebenen Platzverhältnisse in den Bahnhofsbereichen nicht in der gleichen Zeit die Bahnsteige wechseln können, wie dies dispositiv für Züge verhältnismäßig spontan möglich ist und bei den seitens der Deutschen Bahn präferierten Fahrplänen wohl nicht anders durchführbar ist.
Zudem muss berücksichtigt werden, dass inzwischen fast allen Parteien Einigkeit besteht, deutlich mehr Verkehre als bisher von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dies ist sicherlich mit einem ganzen Werkzeugkasten an Instrumenten zu erreichen, von denen aber die ausreichende Kapazität der Infrastruktur und gerade die der Knotenpunkte sicherlich eines der wirkmächtigsten ist und sogar als Grundvoraussetzung betrachtet werden muss. In Bezug auf die Doppelbelegungen verweise ich auf die von mir mehrfach gestellten kleinen Anfragen, bei deren Beantwortung sicherlich die Deutsche Bahn zu Rate gezogen wurde. Bei der Beantwortung schwankte die angegebene Anzahl an Doppelbelegungen alleine seit Sommer letzten Jahres zwischen 102 und 180 Doppelbelegungen pro Tag (vgl. Frage 39 Bundestagdrucksache 19/22479 und Frage 22 Bundestagsdrucksache 19/23871). Ich habe zuletzt mit den 102 Doppelbelegungen argumentiert, was deutlich macht, dass sich die These eines als Engpass entstehenden Bahnknotens auch gut mit der niedrigeren Zahl begründen lässt. Im Rahmen des Deutschlandtakts weist lediglich der Bahnhof Hannover eine höhere Anzahl von Doppelbelegungen auf, wobei diese im Vergleich zu Stuttgart bei wendenden Zügen durchgeführt werden, wodurch sich die Effekte der Verspätungsübertragung stark reduzieren im Vergleich zu den in Stuttgart zu erwartenden Doppelbelegungen (vgl. Bundestagsdrucksache 19/25774). Gerade für einen neu errichteten Bahnhof sehe ich die hohe Anzahl an Doppelbelegungen äußerst kritisch. Bezüglich des in Stuttgart-Vaihingen endenden Regionalexpress ist festzuhalten, dass dieser dort sicherlich ein gutes Fahrgastpotential erschließt. Noch größer wäre das Fahrgastpotential jedoch, wenn der Zug bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof durchgebunden würde, was mit einer Ergänzungsstation unter Erhalt der Panoramabahn möglich wäre.
Sie zitieren in ihrem Brief auch das Verkehrswissenschaftliche Institut (nicht zu verwechseln mit dem Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, das im Gegensatz zum VWI tatsächlich zur Universität Stuttgart gehört) sowie das Verkehrsministerium Baden-Württemberg. Das vollständige Zitat von Gerd Heckmann lautet: „Eine Verdoppelung der Verkehrsleistung ist machbar, darüber hinaus wird es eng“. Dazu kommt, dass sich besagte Untersuchung des Instituts nur auf die theoretische Kapazität bezog, nicht jedoch auf die tatsächliche Fahrbarkeit des Fahrplans – dies wurde nicht untersucht. Daher folgt daraus nicht, dass der Zielfahrplan betrieblich stabil fahrbar wäre.
In Bezug auf das Notfallkonzept habe ich die Bundesregierung mehrfach mit Fragen konfrontiert (vgl. Antwort Bundestagsdrucksache 19/23871: “Da der Inbetriebnahmefahrplan für Stuttgart 21 noch nicht final zwischen allen Beteiligten abgestimmt ist, liegt nach der Auskunft der DB AG noch kein detailliertes zukünftiges Störfallkonzept vor”). Da auch bei diesen Antworten die Deutsche Bahn sicherlich konsultiert worden ist, bin ich etwas überrascht, dass anscheinend doch ein Notfallkonzept für die S‑Bahn vorliegen soll. Das von Ihnen vorgestellte Szenario ist aber aus meiner Sicht kein Notfallkonzept: Zwar können sicherlich Teile der Fahrgäste im Störungsfall auf das Regionalexpress- oder Stadtbahnnetz ausweichen. Unter Anbetracht, dass die Region Stuttgart perspektivisch aufgrund der hohen Nachfrage während der Hauptverkehrszeit nur noch Langzüge (Kapazität 1.500 Fahrgäste) einsetzt, ist mir unklar, wie bei einem Störungsfall unter einem Mindestmaß von Betriebsstabilität sämtliche Fahrgäste der S‑Bahn auf sicherlich nicht leere Regionalexpresse oder gar Stadtbahnen umsteigen sollen. Die eingesetzte S‑Bahn Langzüge sind die Züge mit der größten Kapazität im Raum Stuttgart. Ich bitte daher um Darstellung, wie ein Umstieg im Störungsfall auf andere Züge praktisch umgesetzt werden kann. An einer detaillierten Darstellung eines Notfallkonzepts wäre ich interessiert, insbesondere über eine Offenlegung, wie die S‑Bahn-Züge während der Hauptverkehrszeit in den Tiefbahnhof Stuttgart eingefädelt werden können (nicht bezogen auf mögliche Trassen, sondern auf die real fahrbare Situation und die daraus resultierenden Wirkungen für die Fahrgäste). Nur wenig beruhigt bin ich, dass der Bahnhof nach Ihren Aussagen bei der Inbetriebnahme keine Kapazitätsprobleme aufweist. Dass dies auch mittel- und langfristig der Fall ist, muss leider bezweifelt werden.
Wir Grüne haben im Dezember 2020 eine grüne Bahnstrategie verabschiedet, die bis 2030 eine Erhöhung des Modal-Split im Personenverkehr von aktuell knapp unter 10% auf 20% fordert. Dies ist nur ein Etappenziel auf dem Weg zu einer klimaneutralen Mobilität, in der die Schiene einen deutlich größeren Verkehrsanteil haben muss als aktuell. An dieser Herausforderung für eine Bahn als Rückgrat der Verkehrswende bemesse ich auch die Anforderungen an die Kapazitäten der Infrastruktur. Zweifel, dass der neue Stuttgart Tiefbahnhof ohne Ergänzungsstation diese Anforderungen auch langfristig erfüllen kann, habe ich weiterhin.
Ihr Schreiben hat meine Zweifel an der notwendigen Kapazität und Betriebsqualität nicht verringert. Ein Verkehrswendeszenario, das über das Jahr 2030 hinausgeht, wird der Bahnhof in seinem aktuellen Leistungsumfang nicht abbilden können, schon gar nicht mit angemessener Betriebsqualität. Abschließend verweise ich nochmal darauf, dass der Bahnknoten Stuttgart nicht nur den Inbetriebnahmefahrplan bewältigen muss, sondern auch mindestens den Zielfahrplan des Deutschlandtaktes – mit einer Perspektive von 80 Jahren sollte er eher mehr leisten können, um zusätzliche Verkehre bei guter Betriebsqualität aufnehmen zu können.
Mit freundlichen Grüßen
Matthias Gastel, MdB