Strecke Tübingen – Nürtingen – Stuttgart ertüchtigen!
Bei mehreren Lokalterminen an der Bahnstrecke zwischen Konstanz, Radolfzell und Singen habe ich auch mit Vertretern der Deutschen Bahn (DB) und der Schweizer Bundesbahnen (SBB) infrastrukturelle Handlungsbedarfe thematisiert. Man kann hier durchaus von Engpässen in der Schieneninfrastruktur sprechen. Auffällig ist, dass zwischen Radolfzell und Konstanz-Petershausen zwar eine zweigleisige Bahnstrecke besteht, es auf dem 18 Kilometer langen Abschnitt jedoch keine Überleitstelle zur Möglichkeit eines Gleiswechselbetriebs gibt und auch die Signalisierung unzureichend ist.
Kürzlich hatte ich mich mit einer Anfrage an die Bundesregierung gewandt. Ich wollte wissen, ob die Notwendigkeit gesehen wird, diesen Engpass zu beheben. Die Antwort liegt inzwischen vor und fällt leider ernüchternd aus. Man sehe „keinen Handlungsbedarf hinsichtlich der Streckenkapazität im Abschnitt Radolfzell – KN Petershausen […]. Der Abstand von Verkehrsstationen/Überleitstellen entspreche denen des „gültigen Standards der Strecke“. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Denn: Dass sich Züge auf so langer Strecke nicht überholen können schränkt die betriebliche Flexibilität ein und fördert tendenziell Verspätungen.
Diese Antwort der Bundesregierung zeigt eines der größten Probleme der gegenwärtigen Bedarfsplanung im Schienenverkehr auf. Zur Bemessung der Infrastruktur wird nur der Idealfahrplan angenommen und die Gleise werden bis zur letzten rechnerisch möglichen Trasse ausgelastet. Aufgrund von strengen Bewertungsverfahren zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit von Eisenbahninfrastrukturmaßnahmen, bei denen externe ökologische Effekte, Resilienz, Störfallkonzepte und Betriebsqualität kaum bis nicht beachtet werden, fallen wichtige Maßnahmen durchs Raster. Die Betriebsqualität leidet und bei Verspätungen, Störungen oder Bauarbeiten sind so keinerlei Ausweichkapazitäten mehr vorhanden. Das System kollabiert bei Störungen, wird unzuverlässig und zieht sich den Unmut der Fahrgäste zu, wobei ja eigentlich zum Umsteigen auf den klimafreundlichen Schienenverkehr angeregt werden soll.
Auch auf der Hochrheinbahn (23 Kilometer), der Bahnstrecke Tübingen – Reutlingen (13,4 Kilometer), der Frankenbahn (17 Kilometer) oder der Neckartalbahn (17 Kilometer) ist das Problem bekannt und gegenwärtig. Bezüglich der Bahnstrecke Tübingen – Reutlingen – Nürtingen – Stuttgart hatte ich kürzlich ein Fachgespräch mit Fachleuten für Infrastruktur und Betrieb organisiert. Die Ergebnisse in Form konkreter Ausbauvorschläge hatte ich gemeinsam mit meiner Kollegin aus Reutlingen und meinem Kollegen aus Tübingen in Form eines Briefs an das Bundesverkehrsministerium und die Deutsche Bahn gerichtet. Die Antworten waren überwiegend enttäuschend. Siehe hierzu https://www.matthias-gastel.de/fuer-leistungsfaehigere-bahnstrecke-tuebingen-stuttgart/
Noch akuter wird die Problematik langer Blockabstände vor dem Hintergrund der geplanten Mehrverkehre im Zuge des Deutschlandtakts. Alle genannten Strecken sind Hauptbahnen, für die S‑Bahn ähnliche Verkehre mit dichten Taktfolgen und Zügen unterschiedlicher Haltepolitiken und Geschwindigkeiten vorgesehen sind. Eine resilienzfähige und flexible Infrastruktur ist dafür unabdingbar.
Wer mehr Züge ermöglichen möchte, muss auch anerkennen, dass man hierfür eine ausreichende Infrastruktur benötigt, die ein Abwickeln der angestrebten Verkehre in guter Betriebsqualität ermöglicht.
Ich setze mich schon seit einiger Zeit auf Bundesebene für eine Neufassung der sogenannten standardisierten Bewertung, dem Verfahren, das alle Eisenbahninfrastrukturmaßnahmen auf ihre Wirtschaftlichkeit prüft, ein. Bei der hoffentlich bald erscheinenden Neufassung soll Resilienz und Störfallbetrieben ein höherer Stellenwert beigemessen werden. Somit soll es in Zukunft einfacher sein, Schieneninfrastruktur aus- und neuzubauen und das Bahnnetz fit für die Mobilitätswende zu machen.
Jeder Monat, den wir verlieren, bis wir diese dringend notwendigen Maßnahmen angehen, kommt uns teuer zu stehen und wirft uns zurück in unserem Bestreben nach einer flächendeckenden, zuverlässigen und klimafreundlichen Mobilität. Wir müssen das deutsche Schienennetz fit machen für Mehrverkehre, die von der Straße wegverlagert werden. Dazu braucht es neben einigen größeren Ausbaumaßnahmen auch viele kleine Maßnahmen zur Erhöhung der Kapazität und Verlässlichkeit. Das Beispiel der Strecke zwischen Konstanz und Singen zeigt, dass die Bahnpolitik der Bundesregierung dazu offenbar noch nicht bereit ist. Lange können wir aber nicht mehr warten, diese Dinge endlich in Angriff zu nehmen.